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1988 Spannungen mit der Amtskirche

Staatlicher Druck vs. Selbstverständnis der politischen Gruppen | Eskalation am 27.6.1988 | Demontage der Friedensgebete im Herbst 1988

Staatlicher Druck vs. Selbstverständnis der politischen Gruppen

 

Rat der Stadt Leipzig, 29.3.1988: „Es ist zu verzeichnen, dass sich hier in der Nähe des kirchlichen Raumes bzw. unter Nutzung dessen ein nicht zu unterschätzendes Potential von dem Staat und dem Sozialismus feindlichen Kräften formiert hat. […] Ihre neue politische Qualität [der Friedensgebete] besteht darin, dass sie für Hunderte von ÜSE [Übersiedlungsersuchende] die Möglichkeit bieten, Kontakte untereinander aufzubauen und durch die massiven Zusammenkünfte Druck auf den Staat auszuüben.“
Quelle: Christian Dietrich / Uwe Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde. Dokumente zu den Friedensgebeten in Leipzig zwischen 1981 und dem 9. Oktober 1989, 1994, Dok. 46, S. 149.

Quelle: ABL

Die Ereignisse vom 17.1.1988 in Berlin und die DDR-weiten Reaktionen belasteten die Beziehungen zwischen Staat und Kirche enorm. So wurde auch die Leipziger Kirchenleitung massiv unter Druck gesetzt. Es galt, Organisationsstrukturen der Ausreisewilligen unter dem Dach der Kirche und damit die Politisierung der Friedensgebete zu verhindern: Die Kirche könne ja Friedensgebete durchführen, aber sie sollten der Spiritualität dienen – beten statt diskutieren.

Jetzt zeigte sich, dass der wöchentliche Rhythmus einen wichtigen Beitrag leistete, den öffentlichen Raum zu erobern: Der Konflikt wurde - für alle sichtbar - permanent ausgetragen.

Quelle: ABL/F. Sellentin/B. Heinze

Ein erster Schritt zur „Theologisierung“ der Friedensgebete war der Vorstoß von Magirius, dass die Friedensgebete nur noch in Begleitung eines Pfarrers durchgeführt werden konnten. Damit wurde die seit 1982 bestehende Praxis der eigenverantwortlichen Gestaltung durch Laien und Basisgruppen beendet.

Quelle: ABL

Die Kirchenleitung wand sich im Würgegriff des Staates und verwies darauf, dass in der Kirche Probleme der DDR-Gesellschaft verhandelt würden. Außerdem hätte sie keinen Einfluss darauf, was vor der Kirche geschehe. Gerade durch das Aufstellen neuer Reglements, um sich dem staatlichen Druck zu entledigen, beförderte die Kirche die Entschlossenheit verschiedener politischer Gruppen. Das Agieren der Amtskirche widersprach ihrem Selbstverständnis.

Bernd Oehler: „Es ist ausgesprochen legitim, wenn wir sagen, wir wollen Meinungsfreiheit.“
Bernd Oehler war Mitglied in verschiedenen politischen Gruppen (u.a. AK Gerechtigkeit, Arbeitskreis Solidarische Kirche). Grundrechte waren für sie nicht verhandelbar. Zwiespältig sieht er jedoch das Verhältnis der politischen Akteure zur Selbstermächtigung der Masse in den Friedensgebete.

Zwar bot die Kirche den politischen Akteuren zunächst einen nichtstaatlich reglementierten Kommunikationsraum und Schutz vor Repressionen, doch zugleich wollten die Gruppen ihre Nähe zur Kirche selbst bestimmen. Aus diesem Widerspruch zwischen der Abhängigkeit von den Regularien der Kirche und dem autonomen Selbstbewusstsein ergaben sich in der Folge viele Konflikte. Diese führten letztendlich dazu, dass der kirchliche Rahmen als einengend empfunden wurde und man nach Freiräumen außerhalb der Kirche strebte.

Eskalation am 27.6.1988

Das letzte Friedensgebet vor der Sommerpause brachte das Fass zum Überlaufen. Den Hintergrund bildete eine ganz andere Reaktion auf die Berliner Ereignisse vom Januar 1988. Am frühen Morgen des 5. Februar 1988 tauchten in einem stark frequentierten Fußgängertunnel der Leipziger Innenstadt Sprüche für Glasnost und Perestroika auch in der DDR auf. Noch vor dem einsetzenden Berufsverkehr riegelte die Staatssicherheit den Tunnel ab. Urheber war eine Gruppe junger Leute die Reformen im Sinne des sowjetischen Modells der Öffnung auch in der DDR anstrebte.

Graffiti in Leipzig – Perestroika | Quelle: ABL
Graffiti in Leipzig – Perestroika | Quelle: ABL

Quelle: ABL / 22.28„Wir meinen, daß die anstehenden Probleme einer breiteren Öffentlichkeit bedürfen, als es private Kreise und die Kirche sein können.“
Da die Losungen nicht wahrgenommen werden konnten, erklärte sich die Gruppe mit Flugblättern in einer Art „Bekennerschreiben“. Jürgen Tallig, einer der Urheber, wird beim Verteilen erwischt und zu einer hohen Geldstrafe verurteilt.

Jürgen Tallig: „Jetzt intensivierte sich der Kontakt zu kirchlichen Gruppen.“
Die Initiativgruppe Leben (IGL) wollte Jürgen Tallig bei der Begleichung der Geldstrafe unterstützen und organisierte zusammen mit Pfarrer Wonneberger ein Friedensgebet.

Das Friedensgebet zur Unterstützung von Jürgen Tallig fand am 27.6.1988 statt. Am Bezirkssynodalausschuss vorbei kündigte die IG Leben eine Sammlung für Tallig an. Nach kurzer Absprache mit Pfr. Führer und Pfr. Berger distanzierte sich Pfr. Manfred Wugk, Stellvertreter von Superintendent Magirius, öffentlich gegen dieses Vorgehen. Eigentlich sollte mit einer Kollekte für St. Nikolai gesammelt werden. Aus Unkenntnis der Ereignisse verstanden die Pfarrer nicht, wie für einen „Straffälligen“ Geld gesammelt werden kann.

Bericht Pfarrer Wugks an Superintendenten Magirius, 28.6.1988: „Pfr. Wonnerberger […] wird von mir auf die Verantwortungslosigkeit seiner Beratung hingewiesen, durch die er sich eigentlich außerhalb seiner Kompetenz für diese Funktion begeben habe. […] Zu empfehlen wäre der Ausschluß der Gruppe ‚IG Leben‘ von der weiteren Beteiligung am Friedensgebet, wenn nicht überhaupt eine andere Durchführungsart zu bedenken ist.“
Quelle: Karl Czok (Hrsg.): Nikolaikirche – offen für alle. Eine Gemeinde im Zentrum der Wende, 1999, Dok.41, S. 129

 

Demontage der Friedensgebete im Herbst 1988

Der Kirchenvorstand von St. Nikolai (Führer) hatte schon Mitte Juni 1988 gegenüber dem Synodalausschuss (Berger), dem Verantwortlichen für die Friedensgebete (Wonneberger) und dem Superintendenten (Magirius) signalisiert, in der Sommerpause „[…] den derzeitigen ‚Zustand‘ der Friedensgebete ernsthaft zu prüfen und weiterführende Überlegungen anzustellen.“

Am Ende des Sommers wurden alle Beteiligten durch Führer und Magirius vor vollendete Tatsachen gestellt. Christoph Wonneberger und die politischen Gruppen wurden ausgebootet. Magirius kam mit seinem „Durchgreifen“ dem des Staates zuvor. Die Leipziger SED-Funktionäre drängten auf die Abschaffung der Friedensgebete oder zumindest deren „Theologisierung“.

Chronologie einer Demontage oder die „Theologisierung“ der Friedensgebete.

Quelle: ABL / 1.24.018
Quelle: ABL / 1.24.019
Quelle: ABL / 1.24.020
Quelle: ABL / 27.01.06. title=

Beim ersten Friedensgebet nach der Sommerpause am 29.8.1988, an dem 350 bis 400 Menschen teilnahmen, kam es zum Eklat. Nachdem die Kirchenleitung sich einer Aussprache verweigerte, provozierten die ausgeschlossenen Gruppen eine solche. Jochen Lässig (IG Leben) und Thomas Rudolph (AK Gerechtigkeit) verlasen nach dem Friedensgebet den Brief des Superintendenten und ihren Offenen Brief. Als ihnen das Mikrofon abgeschaltet wurde, riefen sie ihren Protest in die Kirche. Auf ein Zeichen von Magirius begann daraufhin, die Orgel zu spielen. Andreas Radicke (IG Leben) drehte die Sicherung des Orgelmotors heraus und die Briefe konnten weiter verlesen werden.

Auf einer Kirchenbank stehend protestierte Pfr. Führer: „Liebe Zuhörer, falls Sie jetzt weiter hierbleiben, wird das bedeuten, dass das Friedensgebet nicht weitergeht. […] Das sind keine Leute von uns. Wenn sie hier weiter bleiben, arbeiten wir nur dem Staat in die Hände, der das Friedensgebet je eher je lieber aufhören lassen will. Wenn Sie jetzt nicht die Kirche verlassen, wird das vermutlich Konsequenzen haben.“
Quelle: ABL / 1.24.022

Die Kirchenleitung wurde auch dadurch erpressbar, da sie im nächsten Jahr einen Kirchentag in Leipzig abhalten wollte und auf ein staatliches Entgegenkommen angewiesen war.

Rainer Müller: „Offen haben nur wenige argumentiert.“
In den öffentlich vorgetragenen Texten während der Friedensgebete haben die politischen Akteure selten „Klartext“ gesprochen. Man wollte dem Staat keine strafrechtliche Handhabe gegen sie liefern. Umso überraschter war Rainer Müller (AK Gerechtigkeit, AK Solidarische Kirche) über die Ausgrenzung durch die Nikolaikirche.

Die Fronten verhärteten sich immer mehr. Die folgenden Friedensgebete waren geprägt vom kirchlichen Verkündungsauftrag. Im September predigten loyale Pfarrer: Superintendent Johannes Richter, Superintendent Friedrich Magirius, Oberkirchenrat Dieter Auerbach, Rektor des Theologischen Seminars der Uni Leipzig Dr. Christoph Kähler, Pfarrer der Christuskirchgemeinde Leipzig-Eutritzsch Manfred Wugk.

Auf der anderen Seite ließen die politischen Gruppen in ihrem Protest nicht nach. Ein offener Brief an den Landesbischof Johannes Hempel konnte nur auf dem Kirchhof verlesen werden.

Christoph Wonneberger: „Dann muss man eben ‚auswandern‘ aus der Kirche.“
Auch Wonneberger sah den enormen Druck, der auf der Kirche lastete. Man suchte demnach einen Vorwand, die Friedensgebete zu entpolitisieren und sich der politischen Gruppen zu entledigen – mit dem Ergebnis einer noch größeren Öffentlichkeit auf dem Nikolaikirchhof.

Nach dem Friedensgebet vom 5.9.1988 (Messemontag) wurde der Nikolaikirchhof erstmals zum Podium. Aufgestapelte Betonplatten einer Baustelle bildeten eine Rednerbühne. Ca. 200 Menschen versammelten sich und es wurde das Protestschreiben an den Landesbischof verlesen. Im Anschluss bildete sich ein Schweigemarsch durch die Innenstadt.

Quelle: ABL / B. Starke
Nikolaikirchhof, 1989 | Quelle: ABL / B. Starke

Bis auf wenige Ausnahmen wurde der Nikolaikirchhof ab dem 5. September 1988 bis zum 9. Oktober 1989 jeden Montag zum Versammlungsort. Daraus ergaben sich immer wieder Demonstrationen mit mehreren hundert Menschen. Auch die Polizei und Staatssicherheit waren regelmäßig präsent, verhafteten Menschen, riegelten den Platz ab und versuchten Demonstrationen zu verhindern.

Die handgreifliche Auseinandersetzung mit der Staatsmacht gehörte weit
vor dem Herbst 1989 zum wöchentlichen Alltag.

Quelle: ABLStumme Gegenöffentlichkeit
Die politischen Gruppen fügten sich nicht dem Reglement der Kirche. Mit immer neuen Aktionen forderten sie für sich das Recht der Meinungsäußerung ein. Am 26.9.1988 verteilte Rainer Müller (AK Gerechtigkeit) unter den Teilnehmern des Friedensgebetes eine Mundbinde mit der Aufschrift „REDEVERBOT“. Er selbst trug sie bis 24. Oktober.

 

Quelle: ABL / Chr. Motzer
24.10.1988, v.l.: Udo Hartmann (IG Leben), Frank Sellentin (IG Leben), Rainer Müller (AK Gerechtigkeit, AK Solidarische Kirche),
Anita Unger (Frauen für den Frieden, IG Leben), Uwe Schwabe (IG Leben, AG Menschenrechte)

Eine Protestaktion mit strafrechtlichen Folgen fand zum Friedensgebet am 24.10.1988 statt. Bereits während des Eröffnungsliedes machten die Gruppen auf ihre Lage mit Transparenten aufmerksam. Als Gesine Oltmanns (AK Gerechtigkeit) die Aktion erklären wollte, wurde ihr das Mikrofon abgeschaltet. Die Erklärung wurde daraufhin auf dem Kirchhof verlesen und die Transparente aufgestellt.

Quelle: ABL / 001.024.039„Wer vorsätzlich das sozialistische Zusammenleben der Bürger stört […]“
Etwa 450 Menschen beteiligten sich an dem Protest in der Öffentlichkeit. Es kam zu Verhaftungen und Personenkontrollen. So wurde z.B. Frank Sellentin (IG Leben) zu einer Geldstrafe verurteilt, die er nie bezahlte. Im Mai 1990 stellte die Polizei das Verfahren ein.

 

Die Konfrontation gipfelte in innerkirchlicher Zensur. Im Informationsblatt des Jugendpfarramtes durfte keine Diskussion der Ereignisse erscheinen.

Quelle: ABL / S 44.17
Quelle: ABL / S 44.17

Quelle: ABL / 22.28„Leipziger Friedensgebet abgewürgt“
Auch überregional wurden die Leipziger Ereignisse wahrgenommen. Die Berliner Umweltblätter gaben einen Abriss der Ereignisse wieder. Sie kritisierten die Kirche, weil sie ihre Zwänge gegenüber dem Staat nicht offenlegte. Dadurch verliere die Kirche ihre Glaubwürdigkeit.

 

Quelle: ABL / B. HeinzeAngesichts der verfahrenen Situation war es Nikolaipfarrer Christian Führer, der den Kontakt zwischen der Kirchenleitung, dem Kirchenvorstand und den kirchlichen Gruppen nicht abreißen ließ. Er wollte die Friedensgebete unbedingt erhalten und brachte alle wieder an einen Tisch.
Das Ringen um einen Konsens dauerte bis ins neue Jahr. Ein Kompromissvorschlag sah die Beteiligung der kirchlichen Gruppen unter der Bedingung vor, dass sie mehr mit dem Kirchenvorstand von St. Nikolai und dem Synodalausschuss kooperierten.
Ab 10. April 1989 konnten die Gruppen wieder regelmäßig Friedensgebete gestalten.

Die Auseinandersetzungen mit der Kirche bildeten den Katalysator für manche Gruppe, mit aktionsbetonten Protesten den Schutzraum zu verlassen und die Öffentlichkeit zu suchen:

  • - 5.6.1988 „Pleißegedenkmarsch“ zum Weltumwelttag
  • - 9.11.1988 Schweigemarsch zum 50. Jahrestag der Pogromnacht
  • - 28.11.1988 Protest zur Internationalen Dokumentar- und Kurzfilmwoche gegen Zensur
  • - 15.1.1989 Kundgebung und Demonstration für Reformen in der DDR (Jahrestag der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg)
  • - 7.5.1989 Demonstration gegen das Wahlsystem in der DDR
  • - 4.6.1989 „Pleißegedenkmarsch“ zum Weltumwelttag
  • - 10.6.1989 Straßenmusikfestival
  • - 9.7.1989 Demonstration nach der Hauptveranstaltung des Kirchentages

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