1991 - Leipzig macht Druck
Hintergrund | Montagsdemonstrationen in Leipzig
Hintergrund
Die Währungsunion und die deutsche Einheit brachten unmittelbar erhebliche Veränderungen in der ostdeutschen Arbeitswelt. Praktisch über Nacht war die marode DDR-Wirtschaft dem Weltmarkt ausgesetzt. Es kam zu einem kolossalen Beschäftigungseinbruch. Beim Übergang von der Plan- zur Markwirtschaft fehlten jegliche theoretischen und praktischen Erfahrungen. Erschwerend hinzu kam, dass die Strukturänderungen nahezu unvorbereitet und extrem kurzfristig erfolgen mussten. Die Bundesregierung versuchte mit verschiedenen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten (z.B. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen – ABM, Vorruhestand) den Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft abzufedern.
Quelle: Arbeitsmarkt 1991, Arbeitsmarktanalyse für die alten und die neuen Bundesländer, Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg 1992
Über eine halbe Million Menschen suchten in Westdeutschland entweder als Arbeitspendler oder durch Abwanderung (ca. 100.000) bessere Ressourcen für ihr Leben. Das Reservoir an Erwerbspersonen betrug 1989 in der DDR ca. 9,6 Mio. Menschen. Innerhalb von zwei Jahren änderte sich für jeden Dritten die Einkommenssituation durch Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung oder Ost-West-Pendeln.
Quelle: Arbeitsmarkt 1991, Arbeitsmarktanalyse für die alten und die neuen Bundesländer, Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg 1992
Verantwortlich dafür war die Treuhandanstalt. Sie wurde im März 1990 gegründet und sollte zunächst das DDR-Volkseigentum im Interesse der Allgemeinheit verwalten. Im Zusammenhang mit dem Einigungsvertrag übernahmen westdeutsche Manager im Sommer 1990 die Führung. Diese forcierten unter der Verantwortung der Bundesregierung eine schnelle Privatisierung oder Abwicklung der ca. 8.000 Betriebe mit ihren 4 Mio. Beschäftigten, um eine lange Subventionierung zu verhindern. Dieser rasante Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft, der von führenden Politikern als alternativlos dargestellt wurde, wirkte wie eine „Schocktherapie“.
(Vgl. Marcus Böick: Die Treuhand - Idee - Praxis - Erfahrung 1990-1994, 2018)
Für die Menschen personifizierte sich die Treuhandanstalt in Bundeskanzler Helmut Kohl. Im Jahr zuvor noch von vielen Ostdeutschen als „Kanzler der Einheit“ bejubelt, beförderte nun seine Politik das Gefühl des Betrogen-seins auf ein Neues.
Montagsdemonstration Leipzig, 25.3.1991 / Quelle: ABL / B. Heinze
Montagsdemonstrationen in Leipzig
Quelle: ABL
Die erste Montagsdemonstration in Anlehnung an das historische Vorbild fand am 11. März 1991 statt. Sie richtete sich gegen Arbeitslosigkeit und Sozialabbau. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) setzte sich an die Spitze der Bewegung und ein Koordinierungsausschuss von Gewerkschaften, Kirchen und Bürgerbewegungen organisierte die Demonstrationen. Insgesamt gab es sechs Montagsdemos, die auf Grund der breiten Anerkennung der historischen Protestform bundesweite mediale Aufmerksamkeit erreichten. Auch in Dresden, Berlin, Rostock, Zwickau, Magdeburg, Eisenhüttenstadt und Chemnitz wurde demonstriert.
Schon bei den ersten Nachfolge-Demonstrationen ging man davon aus, dass man ähnlich wie 1 ½ Jahre zuvor die Politik beeinflussen und verändern kann.
„Der Herr Bundeskanzler verkennt (wieder einmal) die Situation.“
Im Aufruf zu bundesweiten Protesten forderte das Neue Forum Kanzler Helmut Kohl dazu auf, in Leipzig vor den Demonstranten zu seinen Wahlversprechen Stellung zu beziehen.
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Gewerkschaftsdemonstration 1991 | Quelle: ABL
Durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes entwickelten sich in Ostdeutschland analoge westdeutsche Strukturen und Institutionen. So baute auch der Deutsche Gewerkschaftsbund in den neuen Bundesländern weitere Ländervertretungen auf. Er verstand sich als legitimer Vertreter aller Arbeitnehmer und setzte sich an die Spitze des ostdeutschen Arbeitskampfes. Mit der Auflösung der DDR-Gewerkschaft FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) erwartete er eine starke Akzeptanz im Osten. Ähnlich wie Helmut Kohl im Jahr zuvor der DDR-Bevölkerung seine gesamtdeutsche Popularität verdankte, erhoffte sich der DGB nun ein Ende der stagnierenden Mitgliederzahlen seit 1978/79 mit Hilfe der ostdeutschen Arbeitnehmer.
DAZ [Die andere Zeitung, Leipzig] Nr. 62, 27.3.1991: „Dass es wieder Montagsdemos gibt, beweist nur, auf welch infantilem Niveau das politische Selbstbewusstsein der Ostdeutschen zum Stehen gebracht wurde. Nur dass sie jetzt einen Steinkühler [IG-Metall-Chef] zur kollektiven Weißglut brauchen.“
Montagsdemonstration Leipzig, 8.4.1991 | Quelle: ABL / B. Heinze
Den Arbeitskampf überschattete das Attentat auf den Präsidenten der Treuhandanstalt Detlev Rohwedder am Ostermontag den 1. April 1991. Nicht nur deswegen rissen die Proteste ab. Obwohl die wirtschaftlichen Sorgen unvermindert existierten, mussten die Gewerkschaften, insbesondere die IG Metall, einsehen, dass die Demonstrationen nicht auf Dauer zu festgelegten Zeiten und Themen fortgeführt werden konnten. Dieser Form der Montagsdemonstrationen fehlten die Spontanität und der basisdemokratische Impuls.
Leipzig, 8.4.1991 | Quelle: ABL / B. Heinze
Leipzig, 8.4.1991 | Quelle: ABL / B. Heinze
Auffallend auf den Montagsdemonstrationen sind die stellenweise gänzlich unreflektierten Vergleiche mit Nazi-Führern zum Zwecke der Diffamierung und als Argument zum Entzug der Legitimität, obwohl Kohl erst vier Monate vorher demokratisch gewählt wurde. Damit reklamierte man für sich das Recht und die Wahrheit. Die Grenzen des Anstandes und der politischen Kultur wurden wieder aufgehoben.
Am 9. April zog sich der DGB wegen mangelndem Interesse als Veranstalter zurück. Nachdem am 17. April der Koordinierungsausschuss ebenfalls eine Weiterführung der Demonstrationen absagte, fand am 22. April die letzte Montagsdemonstration mit gerade einmal 300 Teilnehmern statt.
Jochen Läßig (Bündnis 90), 22.4.1991: „Die Montagsdemos sind nur vorläufig ausgesetzt.“