1989 Die Entscheidung
Erosion der Loyalität | Alle hatten Angst
Erosion der Loyalität
Viele innen- und außenpolitische Einflüsse führten zur Entscheidung am 9. Oktober 1989 in Leipzig. Diese bestärkten nicht nur die oppositionellen Milieus in ihrem Handeln, sondern führten auch zu einer massiven Aufkündigung der Loyalität gegenüber der SED.
Mit der Negierung der gesellschaftlichen Probleme stellte sich die SED für ihre Parteigänger ins Abseits und verlor dazu die stillschweigende Anerkennung der unpolitischen Masse. Es entstand eine Situation, in der es kaum möglich war, neutral zu bleiben.
Audio:
Telefonischer Rapport der Volkspolizei-Kreisämter (VPKA) an die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) Leipzig, April 1989
„Es gibt durchgängig Unverständnis.“
Auch in den SED-Mitgliederversammlungen der Polizei wurden die außenpolitischen Entwicklungen in den sozialistischen Ländern diskutiert. In den Reihen der Polizei machte sich Unzufriedenheit breit. Darüber konnten selbst die geschönten Berichte nicht hinwegtäuschen.
Alle SED-Mitglieder sollten von September bis Dezember 1989 ihre Parteidokumente umtauschen. Dieser Umtausch ging einher mit persönlichen Gesprächen. Was keiner für möglich gehalten hätte, viele Mitglieder äußerten Kritik an der Politik in der DDR. Anfangs wurden noch Parteiverfahren eröffnet und Parteiausschlüsse verhängt. Ermutigt, dass die Diskussionen mit den Parteisekretären keine persönlichen Konsequenzen mit sich brachten, kam es zu vielen Austritten aus der SED. Allein in Leipzig stellten in diesem Zusammenhang 135 Genossen sogar einen Ausreiseantrag. Manche kamen von einer Besuchsreise in den Westen nicht wieder zurück oder flüchteten über Ungarn bzw. die westdeutschen Botschaften aus der DDR.
Die allgemeinen Auflösungserscheinungen ergriffen auch die Kampfgruppen, eine paramilitärische Organisation in der DDR. Sie waren dem Ministerium des Inneren (MdI) unterstellt. Bereits im Mai 1989 wurde das Ausbildungsprogramm „Sperren und Räumen von Straßen und Plätzen“ gestoppt, nachdem es zu Austritten bzw. Befehlsverweigerungen gekommen war.
Ausschnitt aus einem Stasibericht über Austritte aus den Kampfgruppen, 23.10.1989:
„Von den Kämpfern, die den Einsatz ablehnten, waren 90% Mitglieder der SED.“
Im Herbst 1989 waren 8.162 Angehörige der Kampfgruppen aktiviert, um als eine Art Schutzpolizei die Ereignisse um den Jahrestag der DDR am 7. Oktober gegen Demonstrationen abzusichern. Konkret zum Einsatz kamen 4.631 „Kämpfer“.
Angehörige der Kampfgruppen verweigerten auch den Einsatz an den Montagen des 2. und 9. Oktober 1989 in Leipzig. Am 9. Oktober erschien nur etwa die Hälfte der Mitglieder zum Einsatz.
"Der Gen[osse]. R. begründete seine Befehlsverweigerung damit, daß er freiwillig in die Kampfgruppe eingetreten und kein bedingungsloser Befehlsempfänger sei. Die Bürger seien auf die Straße gegangen, weil keiner mit ihnen spricht."
"Gen. Sch. erklärte, daß er vor 25 Jahren unter anderen Bedingungen in die Kampfgruppen eingetreten sei. Seit 2 Jahren habe sich das Ausbildungsprogramm geändert und unter anderem würden sie am Schlagstock ausgebildet. Er werde künftig derartige Einsätze nicht mitmachen."
Gen. K.: "Ich gehe doch nicht gegen eine friedliche Demonstration vor. […] Ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, wenn Frauen oder Kinder in Mitleidenschaft gezogen werden."
Gen. F.: "Ich bin gegen den Einsatz von 'militanter Gewalt', weil diese auf der Gegenseite ähnliches hervorrufen würde. […] Die Leute meinen es doch gut, sollen sie doch demonstrieren."
Gen. G.: "Gegen einen äußeren Feind scheue ich mich nicht vorzugehen, aber nicht evt. gegen eigene Kollegen, die doch dasselbe wollen wie ich selbst."
Aufmarsch der Kampfgruppen, Schwerin, 1983 | Quelle: ABL / M. Dabdoub
Ein weiterer Indikator der schwindenden Loyalität gegenüber dem System ist die Flut an Menschen, die die DDR nur noch verlassen wollten. Allein im Jahr 1989 stellten bis zum 1. Oktober über 160.000 Menschen einen Ausreiseantrag.
Quelle: BStU / Stasi Mediathek
Alle hatten Angst
4. September 1989 | 11. September1989 | 18. September 1989 | 25. September 1989 | 2. Oktober 1989 | 9. Oktober 1989
Der sogenannte „Herbst `89“ begann am 4. September. Niemand konnte ahnen, dass bereits einen Monat später die SED mit ihrer Staatssicherheit und der Polizei die Initiative aus den Händen geben musste, weil sich plötzlich viele Menschen im Land einig waren. Am 9. Oktober 1989 kulminierte die Gewaltandrohung der Staatsmacht in Leipzig und traf dabei auf das Selbstbewusstsein eines 1½ jährigen Selbstfindungsprozesses zum zivilen Ungehorsam vor den Kirchen. Dazu verbündeten sich kulturelle und subkulturelle Milieus, die seit Jahren jeweils in ihren Nischen die Grenzen der kleinen Freiräume Stück für Stück erweiterten.
4. September 1989
Seit der gefälschten Kommunalwahl am 7. Mai 1989 und der Ausreisewelle im Frühjahr und Sommer änderte sich die Zusammensetzung der Teilnehmer an den Friedensgebeten. Jetzt kamen immer mehr unorganisierte oppositionell eingestellte Menschen, die dem „Wir wollen raus“ ein „Wir bleiben hier“ entgegensetzten. Das erste Friedensgebet nach der Sommerpause fiel wieder auf einen Messe-Montag.
Nikolaikirchhof, 4.9.1989: „Wir wollen raus“, „Nehmt uns mit in die BRD“ | Quelle: ABL / A. Wiech
„Für ein offenes Land mit freien Menschen“
Die jungen Leute in den politischen Gruppen überließen die westliche Medienpräsenz zur Leipziger Messe den Antragstellern diesmal nicht allein. Sie traten mit eigenen Transparenten aus der Kirche und vor laufenden Kameras schlug die Stasi zu.
Die Fotoserie wird untermalt vom Soundtrack eines rebellischen Lebensgefühls, den unangepasste sowie auf bürgerliche Moralvorstellungen pfeifende Bands bildeten. (hier: Kellerparty von Punks in Leipzig 1988/89 – Quelle: ABL / 22.83)
Die kleine „Wir-bleiben-hier“–Gruppe wurde kurz nach der Bildung eines spontanen Demonstrationszuges von der Polizei gestoppt.
Eine größere „Wir-wollen-raus“-Gruppe mit ca. 250 Personen marschierte in entgegengesetzter Richtung erstmals zum Hauptbahnhof. Dort skandierten sie: „Freie Fahrt nach Gießen“.
11. September 1989
Die Staatsmacht rächte sich für die Schmach der Vorwoche. Nach dem Friedensgebet wurde der Nikolaikirchhof abgeriegelt. Zum Einsatz kamen 245 Polizisten des Volkspolizeikreisamtes und 4 Kompanien der Polizei-Bereitschaft. Die Ansammlung von ca. 500 Personen auf dem Vorplatz wurde aufgelöst. In den Nebenstraßen sammelten sich die Menschen erneut. Die Polizei setzte Hunde ein, um dies zu verhindern.
„Ein Punk wurde hinter einem Bauwagen mißhandelt.“
Während der Auseinandersetzungen wurden 89 Menschen festgenommen. Gegen 18 wurden Haftstrafen verhängt, andere mussten Geldstrafen zahlen. Auch einige Organisatoren des Plakatprotestes zur Leipziger Messe wurden verhaftet.
Noch am selben Abend organisierte sich eine Kontakt- und Informationsgruppe nach dem Vorbild vorangegangener Ereignisse. Sie protokollierte die Einzelschicksale, informierte die Öffentlichkeit, half mit juristischer Beratung.
In der gesamten DDR entwickelte sich eine Welle der Solidarität (Bildergalerie, bitte auf das Bild klicken).
„Möge Angst und Haß das Leben unter uns nicht vergiften.“
Auch die Leipziger Kirchenleitung rief jetzt zur Solidarität auf. In den allgemeinen Gottesdiensten solle man auf die Geschehnisse nach dem Friedensgebet / Montagsgebet aufmerksam machen.
Auf Anregung von Conny Fromme und Uwe Schwabe (IG Leben) wurden in den Folgetagen die Fenster der Nikolaikirche sehr öffentlichkeitswirksam mit Blumen, Kerzen und kleinen Plakaten als Zeichen der Solidarität und Aufmerksamkeit geschmückt. | Quelle: ABL / R. Kühn
Nach dem 11. September waren es nicht mehr die Ausreisewilligen, die die Aktionen bestimmten. An diesem Tag öffnete Ungarn die Grenze auch für DDR-Bürger. Mobilisierend wirkte weiterhin der Aufruf zur Gründung des „Neuen Forum“ als Diskurs-Plattform für die gesamte DDR. Das Verbot der Bürgerbewegung durch die SED brachte wenig später den Ruf der Demonstranten „Neues Forum zulassen“ hervor.
Auch Künstlerverbände der DDR äußerten sich in den folgenden Tagen erstmals öffentlich und forderten einen breiten Dialog in der Gesellschaft.
18. September 1989
Die Teilnehmerzahl an den Friedensgebeten stieg stetig. Am 18. September versammelten sich 1.800 Menschen. Auch diesmal war der Platz vor der Kirche abgeriegelt. Doch nur ca. 150 Menschen blieben auf dem Vorplatz, während sich der Großteil in den Nebenstraßen wieder einfand.
Polizeisprache: „Mehrere 100 Personen in der Tiefe.“
Abriegelung des Nikolaikirchhofs | Quelle: ABL / R. Kühn
Eine Räumung der dezentralen Ansammlungen blieb ohne Erfolg. Daraufhin öffnete die Polizei den Platz. Wenig später strömten ca. 1.000 Menschen darunter viele Schaulustige wieder vor die Kirche. Das „Deutschlandlied“ wurde gesungen und leere Flaschen flogen. Die Polizei griff mit doppelter Räumkette und Hunden gegen die Menge ein. 130 Personen wurden vorläufig festgenommen.
Die nicht geschlossen auftretende Menschenmenge machte der Polizei das Leben schwer. | Quelle: ABL / R. Kühn
„Dann geschah das völlig Unverständliche.“
Die Kirchenvertreter versuchten eine Eskalation mit der Staatsmacht zu verhindern, indem sie das Gespräch mit der Einsatzleitung der Polizei suchten. Trotzdem eskalierte die Situation. Im Nachgang verurteilte die Kirchenleitung die Machtdemonstration der Polizei gegenüber staatlichen Institutionen. Weiterhin forderte sie den Staat auf, endlich eine Gesprächsbereitschaft zur gegenwärtigen Situation einzugehen.
Der Funke von Leipzig begann auf andere Städte überzuspringen. Am Abend des 18. September fand im Magdeburger Dom ein erstes „Montagsgebet zur gesellschaftlichen Erneuerung“ statt.
25. September 1989
2.000 Menschen befanden sich in der Kirche. Weitere 1.000 passten nicht mehr hinein und warteten auf dem Vorplatz. Im Gegensatz zu den Vorwochen hielt sich die Polizei trotz Großaufgebot und Hunden diesmal auffällig zurück. In Auswertung der Ereignisse war dieser Tag für die Polizei eine Zäsur. Wurde ihren Anweisungen bisher schon kaum Folge geleistet, so verschärfte sich die Situation noch einmal durch die vielen Menschen auf der Straße, mit denen die Polizei nicht gerechnet hatte.
Aus den Erlebnissen der Vorwochen behandelte die AG Menschenrechte mit Pfr. Wonneberger zum Friedensgebet das Thema „Gewalt“. Dabei wurden die Leipziger Ereignisse in den Kontext von weiteren Demonstrationen in Berlin und Dresden gestellt. Mit der wachsenden Zahl der Menschen auf den Straßen befürchtete man nicht zu Unrecht einen Ausbruch von Gegengewalt.
Pfr. Christoph Wonneberger: „Wer einen Gummiknüppel schwingt, sollte besser einen Schutzhelm tragen.“
Wonneberger zeichnete in seiner Andacht ein Szenarium von Gewalt und Gegengewalt. Er forderte rechtsstaatliche Strukturen zur Kontrolle des staatlichen Gewaltmonopols und bat die Zuhörer, mit Gewaltlosigkeit den Kreislauf der letzten Wochen zu durchbrechen.
Frank Richter (AG Menschenrechte): „Der erste verletzte Polizist führt unweigerlich zur Eskalation der Gewalt.“
Die Menschen hatten das Vorgehen der Polizei und Staatssicherheit gegen sie nicht für möglich gehalten. Wut und Aggressionen stauten sich angesichts der erlebten staatlichen Gewalt an. Richter mahnte daher dringend zur Gewaltlosigkeit in ihren Reihen.
Quelle: ABL
Die erste große Demonstration wurde von ca. 300 Menschen initiiert und ca. 4.000 schlossen sich nach und nach an. Da der Zugang zur Innenstadt (Markt) abgesperrt war, musste man auf den Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz) „ausweichen“ und betrat erstmals den Leipziger Ring. Der Schritt vom Schaulustigen am Straßenrand zum Teilnehmer und umgekehrt war nur ein kleiner. Diese Konstellation machte das eingegangene persönliche Risiko kalkulierbarer.
Leipzig, Ende 1980er Jahre - Der Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz) wurde zum Ausgangspunkt der Montagsdemonstrationen - mit Oper und Hauptbahnhof (im Hintergrund links). | Quelle: ABL / M. Dabdoub
Lieder helfen Ängste abbauen: Mit der Hymne der internationalen Friedensbewegung „We shall overcome“ und dem Arbeiter-Kampflied „Die Internationale“ machten sich die Menschen gegenseitig Mut auf ihrem Gang ins Ungewisse. Mit den Rufen „Freiheit“, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und „Neues Forum“ zogen sie am Hauptbahnhof vorbei bis zum Friedrich-Engels-Platz (heute: Richard-Wagner-Platz) und auf der Gegenfahrbahn zurück zum Hauptbahnhof. Hier zerstreute sich die Demonstration. Es kam zu sechs Verhaftungen.
2. Oktober 1989
In der Auswertung der „extrem öffentlichkeitswirksamen“ Demonstration der Vorwoche entstanden polizeiliche Planspiele zum rigorosen Eingreifen. Die Staatsmacht war nervös. Jetzt wurde es ernst.
Die Strategie des Volkspolizeikreisamtes sah vor:
- - Mehr Personal +++ Prüfung des Einsatzes von Kampfgruppen
- - Sonderausrüstung und Hunde +++ Sperrketten erst bei Formierung einer Demonstration +++ mit Eskalation wird gerechnet +++ Schlacht in der Innenstadt muss in Kauf genommen werden
- - Massenverhaftungen +++ Schaffung von „Zuführungspunkten“ im Landkreis +++ Verhaftung politischer Gegner +++ Schaffung der staatsanwaltlichen Vorkehrungen
- - Technik für Videoaufzeichnungen
- - Flexible Einsatztaktik für die gesamte Innenstadt +++ spontane Befehlsgewalt vor Ort
- - Agitatoren in Zivil
- - Ansammlungen auf Nikolaihof zulassen +++ in der Tiefe zuschlagen
„Dabei ist die gewaltsame Auseinandersetzung einzukalkulieren und der Spuk ein für alle Mal zu beenden“.
Unter den Besuchern des Friedensgebetes waren eine größere Anzahl „gesellschaftlicher Kräfte“. Bereits um 16:23 wurden die Türen der Nikolaikirche wegen Überfüllung geschlossen. Es befanden sich ca. 2.500 Menschen in der Kirche. 3.000 weitere warteten davor. Noch sehr viel mehr Menschen harrten in den angrenzenden Straßen der Dinge. Erstmals öffnete sich eine zweite Kirche, die Reformierte Kirche, für ein paralleles Friedensgebet mit 600 Besuchern.
Bereits ab 14 Uhr war die Polizei mit einem starken Aufgebot in der Innenstadt präsent. Erstmals kamen auch die Kampfgruppen zum Einsatz.
Karl-Marx-Platz, 2.10.1989 | Quelle: ABL / S. Schefke
Gesprächsfetzen von Teilnehmern nach einem Mitschnitt während der Demonstration | Quelle: ABL / Audio G. Gäbler
Die Polizei ging von 2-3.000 Demonstranten aus. Diese wollte man auf den Karl-Marx-Platz abdrängen und dort auflösen. Noch war es nicht geplant polizeiliche Hilfsmittel einzusetzen. Doch wieder hatte die Polizei nicht mit so vielen Menschen gerechnet. Diesmal waren ca. 20.000 Menschen auf den Straßen. Erstmals erklang der Ruf „Wir sind das Volk“, wenn auch noch etwas zaghaft.
Bevor der Demonstrationszug in Richtung der Bezirksbehörden von Polizei und Staatssicherheit abbiegen konnte, wurden er durch Polizeiketten gestoppt. Plötzlich standen sich Demonstranten und Polizei ganz nah gegenüber. Dabei blieb es nicht nur bei verbalen Übergriffen. Den bewegungsunfähigen Polizisten wurden die Effekten von ihren Uniformen gerissen und Polizeimützen flogen durch die Luft.
Ausschnitte des Polizeifunks am Thomaskirchhof:
„Mit Ausrüstung, Knüppel frei“
Am Thomaskirchhof eskalierte die Situation. Hier wurden ca. 1.500 Menschen, die zuvor die polizeiliche Sperrkette durchbrochen hatten, brutal aufgelöst. Vehement versuchte die Polizei, die Menschen aus der Innenstadt zu treiben. Es kam zu 20 Verhaftungen.
„Gegen 20:30 preußische Polizei (Offiziersschüler) mit Helm, Schild und Schlagstöcken.“
Der Ablauf der Ereignisse wurde für das Kontakt- und Informationsbüro in der Markusgemeinde festgehalten.
„Dann gehen Sie doch zum Rat des Bezirkes und nicht zu uns.“
Nach der Demonstration kam es zu Diskussionsrunden mit der Polizei, den Kampfgruppen und auch den in zivil auftretenden Stasimitarbeitern. Die Abschrift eines überlieferten Mitschnittes zeigt die Schwierigkeiten eines „Dialogs“ bei einseitigen Machtverhältnissen.
Die Polizei war angesichts der Menschenmassen mental und fachlich absolut überfordert.
Meinungen von Polizisten nach ihrem Einsatz am 2.10.1989:
(Quelle: Sächsisches Staatsarchiv Leipzig)
„Der Zeitpunkt für eine Zerschlagung der oppositionellen Gruppen wurde verpaßt. Skinheads und Rechtsradikale nutzen diese Situation aus, um Gewalt und Terror zu verbreiten. Da die Zahl der ‚Demonstranten‘ immer weiter eskaliert, entsteht die Frage, wie lange können wir solche Einsätze noch lösen.“
„Außerdem macht es sich sehr gut, wenn plötzlich sämtliche Offiziere für ca. 10 min. weg sind und sich in ihre Fahrzeuge zurückziehen und sie verriegeln.“
„Ich bin der Meinung, daß die Aggressivität der Demonstranten von Woche zu Woche zunimmt. In der Sperrkette hören wir solche Sätze wie – ‚wir rechnen woanders ab, wenn wir euch in der Kneipe erwischen‘.“
„Für mich war es eine unheimliche seelische Belastung. Einmal aus Angst davor, daß man von den Massen überrannt wird oder im Handgemenge verletzt wird. Man mußte sich beschimpfen und beleidigen lassen für eine Sache, für die man nicht verantwortlich ist. Auch im Ausgang werden wir in Uniformen beleidigt. Bis jetzt hat sich jedenfalls noch kein Bürger für mein Handeln am Montag bedankt.“
9. Oktober 1989
Alle Seiten hatten das Gefühl, heute entscheidet sich etwas – entweder oder. In den letzten Tagen hatten sich die Ereignisse in der gesamten DDR überschlagen. In mind. 23 Städten der DDR fanden am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag ihrer Gründung, Demonstrationen statt. Überall schritt die Polizei massiv ein und verhaftete ungezählte Menschen. In Dresden kam es seit dem 3.10. täglich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Am Abend des 8.10. ließ sich die Dresdner SED-Bezirksleitung auf ein erstes Gespräch ein. Begleitet wurden all diese Proteste durch eine denunziatorische Propaganda der SED, die damit weiteres Öl ins Feuer goss.
Audio:
Telefonischer Rapport der Volkspolizei-Kreisämter (VPKA) an die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) Leipzig, 9.10.1989:
„Man soll endlich Schluss machen mit dem Spuk, dort.“
Audio: Heimlicher Mitschnitt einer SED-Versammlung im Leipziger Rathaus, 9.10.1989 Quelle: ABL |
„Es geht um die Machtfrage.“ |
Audio: Heimlicher Mitschnitt einer SED-Versammlung im Leipziger Rathaus, 9.10.1989 Quelle: ABL |
Dieses Konzept der SED ging nicht auf. Zum einen „seilten“ sich einige „gesellschaftliche Kräfte“ vorher ab. Zum anderen war man nicht darauf vorbereitet, dass die Friedensgebete in vier Kirchen parallel durchgeführt wurden: Nikolaikirche, Thomaskirche, Reformierte Kirche, Michaeliskirche.
„Das Ziel des Einsatzes besteht in der dauerhaften Zerschlagung gegnerischer Gruppierungen.“
Am 8.10. stimmten sich die Polizeibehörden ab. Am nächsten Tag sollten über 3.100 Kräfte zum Einsatz kommen. Dazu befanden sich 1.500 Soldaten in Bereitschaft. Um dem „Spuk“ ein Ende zu machen, wurden Straßenkämpfe und Zerstörungen in Kauf genommen. Neben Schlagstöcken und Hundestaffeln sollten auch Wasserwerfer und Tränengas zum Einsatz kommen.
Dem martialischen Säbelrasseln der Staatsmacht standen verschiedene Versuche der Deeskalation gegenüber: Ansprachen in den vier Kirchen, Transparent an der Nikolaikirche, verschiedene Flugblätter, Ansprache von städtischen Persönlichkeiten über den Stadtfunk („Leipziger Sechs“).
„Presseerklärung“ des Neuen Forum Leipzig, 4.10.1989 | Quelle: ABL
Gelbes Transparent (180x150cm) an der Nikolaikirche, 9.10.1989
„Appell – Wir sind ein Volk. Gewalt unter uns hinterläßt ewig blutende Wunden.“
Am Nachmittag tauchten Flugblätter verschiedener Autoren in der Innenstadt auf. Die größte Verbreitung mit ca. 30.000 Exemplaren fand der „Appell“ kirchlicher Basisgruppen (AK Gerechtigkeit, AG Menschenrechte, AG Umweltschutz). Aus der Erfahrung der Gewalteskalation in verschiedenen Städten der DDR appellieren die Unterzeichner auf einen Gewaltverzicht von beiden Seiten.
Zum selben Zeitpunkt wie in Leipzig versammelten sich Menschen in vielen Städten der DDR zu Friedensgebeten in den Kirchen. So kamen z. B. in die Dresdner Kirchen 20.000 Menschen, in den Magdeburger Dom 4.000 oder 150 Menschen in die Wenzelskirche von Wurzen.
„Schließt euch an!“
Geschätzte 70.000 Menschen erobern den Leipziger Ring. Beruhigend wirkte der Aufruf der „Leipziger Sechs“, denn selbst Leipziger SED-Funktionäre wollten sich nun für einen „Dialog“ in der Gesellschaft einsetzen. Nach den Ereignissen vom Vorabend in Dresden ein weiteres der SED abgetrotztes Zugeständnis.
Auf der Demonstration gab es die ersten beiden Transparente: „Wir wollen keine Gewalt“ und „Neues Forum zulassen“
Bis 18:25 dauerte das Friedensgebet in der Nikolaikirche. Von nun an setzten sich die Menschenmassen in Bewegung. Bereits 10 Minuten später kapitulierte die Polizei.
Befehl des Chefs der Bezirkseinsatzleitung Straßenburg an alle Einheiten, 18:35:
"An alle Einsatzkräfte ist der Befehl zu erteilen, daß der Übergang zur Eigensicherung einzuleiten ist! Einsatz Kräfte nur bei Angriffen auf Sicherungskräfte, Objekte und Einrichtungen. Bei Angriff - Abwehr mit allen Mitteln. Verkehrsorganisatorische Maßnahmen einleiten."
Erstmals wurde der Leipziger Ring vollständig umrundet. In der Wahrnehmung der Demonstranten bedeutete dies: Nun haben wir gewonnen!
Wieder ging die Strategie der Polizei nicht auf. Mit so vielen Menschen auf der Straße hatte niemand gerechnet. Befördert wurde der Erfolg auch durch das interne Taktieren der SED-Spitze in Berlin im Umgang mit der Gesamtsituation.
Die Angst auf allen Seiten hatte ein zurückhaltendes Handeln zur Folge.
„Schließt euch an!“
Adalbert Haberbeck war am 9. Oktober das erste Mal auf der Straße. In seiner Freizeit machte er eigene Lieder und gab sie im Freundeskreis zum Besten. Unmittelbar nach diesem Montag schrieb er „Schließt euch an!“ als Ausdruck seiner Anspannung aber auch der Genugtuung des Erfolges. Zum Abschluss der Kundgebung zur Montagsdemonstration am 27.11.1989 sang er sein Lied vor 100.000 Menschen. Er wollte damit die mittlerweile hitzigen Debatten unter den Demonstranten beruhigen.