Loading color scheme

Ahne: Gedanken zum Herbst '89

Die Demonstrationen in der Wendezeit waren für mich wie eine zweite Geburt. Endlich passierte etwas um mich herum. Endlich bewegte sich etwas. Endlich brauchte ich mich nicht mehr in meine Phantasiewelten zurück zu ziehen, wie ich es all die Jahre zuvor getan hatte. Flucht als Überlebensstrategie.

Auf einmal machte es richtig Spaß hinaus zu gehen, auf der Straße zu sein, sich unter Menschen zu bewegen. Ich fühlte mich zum ersten Mal als Teil von etwas. Dabei kannte ich jene, die dort links und rechts neben mir liefen, nicht, die „Keine Gewalt“ skandierten oder „Stasi in die Produktion“, die „Dona nobis pacem“ sangen oder „Die Internationale“. „Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun, uns aus dem Elend zu erlösen, können nur wir selber tun“. Ja, wir sangen „Die Internationale“, auch wenn heutzutage einige nach rechts außen gedriftete ehemalige Bürgerrechtler den Eindruck zu erwecken versuchen, es sei damals ein Volk aufgestanden gegen den Sozialismus und die Teilung Deutschlands. Sicher, solche gab es, auch unter uns, Menschen, die sich eine Wiedervereinigung wünschten, kapitalistische Verhältnisse, gar ein großdeutsches Reich. Eine äußerst heterogene Menge fand sich zusammen, im Herbst 1989, auf den Straßen der Republik. Genauso jedoch hätte man behaupten können, diejenigen, die dort demonstrierten, wollten den Anarchismus, eine Welt ohne Grenzen, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, denn davon gab es mindestens ebenso viele, wie von jenen für mich unsichtbaren Patrioten. Was uns alle, auch die vielen Christen, oder Menschen, die sich keiner politischen Richtung zuordneten (sicherlich die meisten), verband, wir wollten freier werden. Wir wollten freier sein. Freier denken, freier reden, freier leben. Wir wollten endlich unseren Mund aufmachen. Wir wollten reisen können, wohin wir wollten, die Bücher lesen, die Musik hören, die Filme schauen, nach denen es uns gelüstete. Wir wollten wählen können, nicht nur verschiedene Parteien, sondern allgemein, zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Hört sich banal an, doch damals war allein das Ausdrücken dieser Gedanken schon eine Befreiung.

Zuvor erschien mir die Zukunft ja lediglich als Alptraum. Jahr um Jahr musste bewältigt werden. Eine anstrengende Aufgabe, das Leben zu meistern. Nach jedem Geburtstag rief ich innerlich erschöpft: „Geschafft!“

Sollte nun das Leben etwa doch Spaß machen? Ich freute mich auf jeden Tag im September und Oktober '89, wenn ich nach absolvierter Schicht zur Gethsemane-Kirche pilgerte. Die Knüppelschläge überforderter Volkspolizisten, die man ab und zu verpasst bekam, wirkten da wie hilflose Ohrfeigen eines autoritären Vaters, welcher der Jugend die erste Liebe des Lebens auszutreiben versucht. Zum Scheitern verurteilt. Lächerlich. Muss allerdings auch einräumen, wirklich schlimme Erfahrungen blieben mir erspart. Im Knast bin ich nicht gelandet, wurde lediglich in meinem Betrieb vor eine Kommission gezerrt, die mir allen Ernstes Revanchismus vorwarf. „Du willst doch Polen zurück haben!“, brüllte ein durchgeknallter Funktionär mit aufgeblähten Backen, weil ich an der Wandzeitung unserer Druckerei zum Bummelstreik aufgerufen und die Methoden der Sicherheitskräfte der DDR mit jenen der Pinochet-Junta in Chile verglichen hatte.

Was ich mir nicht vorstellen konnte, damals, dass schon kurze Zeit später vor allem in Sachsen und Thüringen die Masse der Demonstranten schwarz-rot-goldene Fahnen schwenkte, Helmut Kohl huldigte, vehement die D-Mark einforderte und nicht wenige auch tatsächlich die deutschen Ostgebiete wieder heim ins Reich holen wollten. Da waren wir in Berlin regelrecht geschockt, die meisten derer zumindest, die ich kannte.

Keine Ahnung, wie viele jener „Deutschland einig Vaterland“-Rufer vorher zur angepassten Basis des SED-Obrigkeitsstaates gehörten, ich jedenfalls empfand das schwarz-rot-goldene Fahnenmeer als Sieg des Spießertums, als feindliche Übernahme der ostdeutschen Emanzipationsbewegung. Damit lag ich natürlich genauso falsch, wie heute die ehemalige SED-Genossin, dann Grünen-Politikerin, dann CDU-Abgeordnete und Merkel-Freundin, dann Merkel-Hasserin, Werteunion-Mitglied und AfD-Sympathisantin Vera Lengsfeld, wenn sie von einer antisozialistischen Freiheitsbewegung im Herbst '89 in der DDR spricht, welche die Wiedervereinigung erzwang.

'Fehlfarben' sangen einst „Geschichte wird gemacht“. Geschrieben wird sie, wie die meisten von uns ahnen, erst hinterher. Ich will, so lange ich lebe, versuchen, auch die Stimme derjenigen zu Gehör zu bringen, die im Herbst '89 für andere Dinge als einen wiedervereinigten deutschen Nationalstaat auf die Straße gingen. Klingt pathetisch, aber genauso ist mir im Moment zumute.

Ahne, 1968 in Berlin-Buch geboren, ist gelernter Offset-Drucker. Die Wende war für ihn ein Glücksfall: Er wurde arbeitslos und Hausbesetzer. Ahne war etliche Jahre bei den Surfpoeten aktiv und liest jeden Sonntag bei der Berliner Reformbühne Heim & Welt. Insgesamt sind von ihm vier Bände seiner »Zwiegespräche mit Gott«, fünf Bücher mit Kurzgeschichten sowie ein Lyrikband erschienen. Ahne ist einer der bekanntesten Lesebühnenautoren der Welt.

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige dieser Cookies sind wichtig für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, unsere Website zu verbessern. Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten unserer Seite zur Verfügung stehen.