Jacinta Nandi: Die Wende, die mir immer näher kommt
Nach der Wende hatten wir einmal in der Schule eine Versammlung zum Thema Ostberlin. Das ist übrigens eine Ähnlichkeit zwischen Ostdeutschland und Großbritannien – die Schulversammlung jede Woche, wo die Lehrer euch volllabern drüber, wie stolz du sein sollst, auf deine Schule, auf deinen Bezirk und auch auf dein Land. Ich glaube, dass unser Direktor Deutschland-Fan war, er erzählte immer eine Geschichte über einen Urlaub in Deutschland, wo er auf den Autobahn fuhr, und jedes Mal, wo er den Schild für “Ausfahrt” sah, sich wunderte, dass er nie von diesen offentsichlich doch so großen deutschen Stadt gehört hätte.
Also: wir waren in der 8. Klasse, und er erzählte uns über Ostberlin.
“Jetzt gibt es auch in Ostberlin MacDonald's-Filiale!”, rief er. “Mit genau der selben Speißekarte wie im Westen! Sogar die Milkshakes.”
Bedeutungsvolle Pause. Sehr wichtig für eine gelungene Schul-Versammlung, die Pausen.
“Aber sie haben minderwertige Milkshakes in Ostberlin, da sie nicht die ganzen Zutaten bekommen können. Schade für sie eigentlich, aber es macht nicht's, denn der Ostberliner hat die leckere westliche Milkshakes nie probiert. Die minderwertige ostliche Milkshakes schmecken den voll!”
Bedeutungsvolle Pause. Unser Direktor hatte das drauf, mit der Schulversammlung. Der war voll der Entertainer.
“Und so gewöhnen sich die Ostberliner an dem Geschmack der Freiheit....”
Wenn ich zurück gucke auf diese Versammlung frage ich mich, ob unser Dierktor nicht doch heimlich Kommunist gewesen ist, und das alles satirisch gemeint hatte. Kann ich aber kaum glauben, er hat immer fast geweint wenn es um Dunkirk ging.
Ich war 20 Jahre alt als ich nach Deutschland ging. Meine Mama, die als Teenager Kommunistin geworden ist, die Karl Marx las, und weinte mit Berührung, fragte mich, ob ich mein großes Wörterbuch mit in meinem Koffer nehme. Nee, sagte ich, ich brauche das nicht, ich kenne so viele Wörter. Wenn ich anrief nach Hause, in Telefonzellen, haben meine Eltern mich zurück gerufen – damals könnte man in Telefonzellen noch zurückrufen, das waren Zeiten – und meine Eltern haben gerufen ARE YOU IN THE EASTERN SECTOR? “Aber du klingst so laut und die Leitung ist so klar und deutlich! Sie müssen die Kabel gelegt haben nach dem Mauerfall.”
In den kurzen Jahren zwischen meiner Ankunft in Berlin und der Geburt meines ältesten Sohnes habe ich manchmal mit deutschen Männern geschlafen, nur um rauszufinden, ob sie aus dem Osten oder dem Westen kamen, und wenn Osten, was sie mit ihrem Begrüßungsgeld gekauft haben.
Jetzt ist meine Mama krank, sie kann mich nicht mehr besuchen kommen. Vielleicht ist es egal. England ist sowieso Ostdeutschland geworden seit dem Brexit, oder. In Ostdeutschland ist Angela Merkel den Sündenbock für alles, die Engländer haben verschiedene Menschen, die sie die Schuld geben.
“Die weiße Leute haben Brexit gewählt weil die Bangladeshis immer drei Wohnungen besitzen und dann trotzdem in einer Sozialwohnung leben”, erklärte mir die indische Freundin meiner Mama am Heiligen Abend.
“Die Idioten in der Arbeiterklasse haben Brexit gewählt weil sie dumm sind”, sagte meine Tante. “Früher war der ostdeutsche Arbeiter ein unsichtbarer Schutz bei den Gewerkschaftsverhandlungen. Nachdem Sozialismus versagt hat, sind die britische Arbeiter beschutzt worden von der EU. Jetzt sind sie alleine auf sich gestellt, lass uns sehen was jetzt passiert.”
“Ich beende im Armenhaus”, sagte meine Mama. “So will es der Staat.” Sie lacht wie eine verrückte Hexe. Ich streichelte ihre kalte, leblose Hände. Sie kriegt kaum Blut mehr in ihre Finger.
Wenn man mit einem ostdeutschen Taxifahrer quatscht, erinnert er dich oft an einem englischen. So wie der Ostdeutsche über Westdeutschen lästert, so lästern die Engländer über die Deutschen in besonders und die Europäer in Allgemein. Es ist eine Opfermentalität – aber eine Opfermentalität ohne Solidarität oder Mitleid. Eine Opfermentalität, die drauf basiert, wieder Täter sein zu wollen. Schade eigentlich. Irgendwie tut mir alles Leid. Irgendwie tut mir alles doch weh.
Jacinta Nandi, Jahrgang 1980, geboren in Ost-London, lebt seit 2000 in Berlin, schreibt auf Deutsch und auf Englisch – auf Deutsch hat sie unter anderem für die „taz“ von 2013 bis 2014 als „Die gute Ausländerin“ geschrieben, 2013 das Buch „Fish & Chips und Spreewaldgurken“ mit Jakob Hein veröffentlicht, und 2015 ihren autobiografischen Roman „Nichts gegen blasen“ veröffentlicht. Auf Englisch schreibt sie den WTFBerlin-Blog für Exberliner*innen. Sie hat zwei Kinder und ihr Lieblingsessen ist immer noch pie and chips.