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Paul Bokowski: Substitut und Suggestion

I

Fast genau zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs fiel mein damaliger Mitbewohner, der nie in seinem Leben irgendein geopolitisches Interesse gezeigt hatte, eines Abends aus dem Küchenfenster. Drei Stockwerke tief, auf westdeutschen Waschbeton, zwei Meter neben den rettenden Wacholder. Ich fand ihn im fahlen Licht unserer Hoflampe, leise keuchend, alle Viere von sich gestreckt. Ein dünnes Rinnsal Blut trat aus seiner Schnauze. Der dumme Kater kotete sich ein, schielte stumpfsinnig an mir vorbei und starb mit einem letzten aufflammenden Krampf. Sein Sturz hatte mir einen Schlag versetzt, so unerwartet wuchtig, dass der Schmerz erst auf sich warten ließ, dann ausblieb. Entseelt, gleich einem Apparat, trug ich das tote Tier zurück hinauf, bettete es und wachte, die ganze Nacht, über dem Kadaver. Ich wollte weinen, aber konnte nicht. Weinen war nicht unsere Art, wie mein Vater immer sagte. Nie hatte ich ihn weinen sehen. Doch. Einmal. Im November ‘89. Hemmungslos und lange, wie im Wahn, als wolle er sich all der Tränen seines Lebens auf einen Streich entledigen. Ich aber konnte nicht, zwei Dekaden später, nach dem Fenstersturz. Nur ein stumpfer Zorn presste mir von innen gegen meine Schläfen. Ein hydraulischer Mechanismus, pumpte, pumpte, pumpte vergeblich, bis der Druck hinter meinen Augen, wie in einem migränischen Gewitter über mir hernieder ging und ich räudig in mein Bett kroch. Ich hatte nicht viel verloren in meinem Leben. Als Kind einen Großvater, fern und fremd in der Volksrepublik Polen; am Vorabend der Pubertät eine Spange in der Regionalbahn. Mein Kummer wusste folglich nicht wohin. Er klammerte sich hilfesuchend an die blinde Wut. Verkrallte sich in mir, verkapselte mich. Am ersten Tag trat ich im Zorn ein Loch in die Küchentür. Am zweiten prügelte ich, wie von Sinnen, auf mein Sofa ein. Hämmerte und boxte. Am dritten Tag schleuderte ich, mit knallrotem Kopf, jedes Katzenspielzeug durch die Wohnung, dass ich finden konnte. Immer wieder, endlos lange, diese federleichten Gegenstände, die keinerlei Momentum erzeugten, still gegen die Wand flogen und unbefriedigend zu Boden plumpsten. Freunde brachten mir Essen und einen kleinen Fernseher, weil ich das Haus nicht mehr verließ und nur noch stoisch an die Decke starrte. Der Schmerz umspülte mich, träge und behäbig, und legte über meinen Kummer eine fast lächerliche Theatralik.

II

Genau zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer lief im Fernsehen ein gutes Dutzend Sondersendungen. Pfiffige Redakteure hatten das endlose Bildmaterial in handliche Minuten eingekocht, sauber reduziert. Demo, Demo, Demo, dann Schabowski, Gedränge an der Bösen Brücke, Kleidung aus dem Westen oder aus Silastik, Schnurrbart, Dauerwelle, Schnitt auf Schlagbaum [unscharf], Grenzsoldaten [unschlüssig], Schläge auf Trabantendach. Dann Dreher-Jürgen oder Kunststoffpresser-Micha: „Ick hab’ jeseh’n, wie de Mauer [unsaubere Aussprache] und jetzt seh’ ick, wie se wieder weg kommt!“. Schon beim Schlagbaum waren mir die Tränen in die Augen gequollen. Erst vergorene, fast denaturierte Tränchen, die wie Pfropfen aus mir heraus trieben. Beim Trabbidach dann sämige in eiliger Frequenz. Bei Dreher-Jürgen schließlich Wolkenbruch. Mein Gesicht verzerrte sich, wurde flüssig und glitt in Lake und Rotz davon. Als das ZDF zurück ins Studio schaltete, fasste ich mich, verfestigte mich, wechselte dann aber so lange von Sender zu Sender bis ich wieder auf einen Einspieler stieß: Schabowski, Schlagbaum, Sturzbäche. Ich legte meine ganze Traurigkeit in diese Fügung. Meinen Kummer, meinen Schmerz wie einen Parasiten, in den hübsch verpackten kollektiven Freudentaumel. Nahm diesen in Beschlag, nahm ihn mir als Geisel. Was aus dem Fernseher wie durch ein Nadelöhr zu mir herüber strömte war ein Freibrief, eine Blankoemotion, die ich einsog, prägte, polte und durch meine Tränengänge wieder hinaus presste. Erst weinte ich um den Kater, minutenlang, mit bebenden Lippen und zitterndem Kinn, dann um mich. Immer wenn es nötig wurde, schaltete ich um: ARD, RBB, MDR. Flackernd gruben sich die Mauerspechte in den Sichtbeton. Meißelten ihre Löcher, hunderte, ein feinmaschiges Netz. Und ich, Schmarotzer, seihte meinen grobkörnigen Ballast hindurch, katalysierte mich an der deutsch-deutschen Emulsion. Ich wurde immer leichter, immer weniger, fast verweinte ich mich, doch dann kam Markus Lanz, woraufhin es mir verging und ich ins Bett.

III

Fast drei Jahrzehnte nach dem Ende der Deutschen Teilung hatte ich die Lesezeichen meines Browsers um ihre Vokale erleichtert. Aus Platzgründen, sauber reduziert: WTTR; WHTSPP; SPRKSS; FCBK; TWTTR; MRFLL. Der letzte Link, ein Youtube-Video, hatte mir gute Dienste geleistet, aber stetig marodierend an Wirkung verloren. Schabowski und Dreher-Jürgen spielten sehr sauber, aber schon lange ohne Leidenschaft. Nur, wenn ich mich drängte, ging es noch, wenn ich mich mühte. Wenn ich die Bilder einbettete, überhöhte, in eine kleine sentimentale Predigt hinter meinen Stirnlappen. Dann dachte ich an Flandern oder Verdun. Heiligabend zwischen den Schützengräben. Wie sie Fußball spielten, im ersten Jahr. Der letzte Akt unbeschwerter Menschlichkeit. Bevor sie hinab stiegen in den Morast und liegen blieben im Morast für den Kaiser und das Vaterland. Wie der Kontinent und das Jahrhundert in Düsternis versanken: WLTKRG; HTLR; WLTKRG; HLCST. Zur Not noch eine Prise KLTR KRG und TSCHRNBYL. Der ganze Wahnsinn einer Zeit, wie er sich plötzlich umkehrte, immer montags, schwelend, schwellend, und im November ‘89 in Wohlgefallen kulminierte. Der Beginn einer neuen Zeit. Endlich. In der es gut und immer besser wurde. Ehrlich. Nur diese kleine Predigt. Damit ging es noch. Und wenn auch das nicht half, dann dachte ich an Vater. Wie er auf der Cordcouch saß und heulte wie ein Szłosshónd.

VI

Er hätte nicht geweint, sagte mein Vater.
Doch! Habe er wohl, sagte ich.
Nein, insistierte er.
Weinen sei nicht unsere Art. Wütend sei er gewesen. Wahnsinnig wütend. Wann seien sie geflohen? Zweiundachtzig? Die sieben Jahre hätten sie noch rumgekriegt. Was diese dumme Flucht gekostet habe und dann machen die die Mauer auf. Dreiundneunzig Monate. Das hätte er mal ausgerechnet. Nicht mal hundert. Mit links hätten sie das abgesessen. Sei doch alles halb so schlimm gewesen. Ach und die Zahnspange, wo wir schon dabei wären, das sei nur eine Beißschiene gewesen. Doch, doch, ganz sicher. Wie ein kleiner dürrer Boxer hätte ich ausgesehen. Und die läge noch im Keller, ganz hinten in der ersten Schublade. Nicht in der Regionalbahn. Das seien Handschuhe gewesen. Nigelnagelneue Handschuhe. Die Zahnspange aber, sagte er, die hab’ es nie gegeben. Ich hätte weinen können.

Paul Bokowski wurde 1982 in Mainz geboren. Der Autor, Vorleser und Geschichtenerzähler gehört seit vielen Jahren zur Speerspitze der Berliner Lesebühnenszene. Er ist Gründungsmitglied der stadtbekannten Lesebühne »Fuchs & Söhne«, der Göttinger Kultlesebühne »Dioptrien Deluxe« sowie Redakteur des Satiremagazins »Salbader«. Sein Kurzgeschichtendebüt »Hauptsache nichts mit Menschen« avancierte schnell zum erfolgreichen Longseller. Nach seinem Folgeband »Alleine ist man weniger zusammen« erschien im Herbst 2019 sein nunmehr dritter Geschichtenband: »Bitte nehmen Sie meine Hand da weg«.

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