„Schwarz – Rot – Gold - Wir sind das Volk“ - 8.1. bis 12.3.1990
Die romantisierende Idee einer Gemeinschaft basierend auf gleicher Sprache und Kultur bewegte sich spätestens seit 1990 auf dem schmalen Grat zum „Völkischen“. Das „Volk“ meinte das „deutsches Volk“. Ausländer und Andersdenkende (vor allem Linke) gehörten nicht mehr dazu. „Wir sind das Volk“ wurde zum Argument der Ausgrenzung, „schwarz-rot-gold“ signalisierte wovon. Die Menge lebte enthusiastisch eine nationale Zugehörigkeit aus. Ein DDR-Nationalgefühl gab es nicht, denn „Nation“ war vielmehr Bestandteil eines politisch verordneten Wertesystems. Aus diesem Defizit und dem Frust über die ständige Bevormundung erwuchs eine deutschnationale „Bewegung der Bürger“, aber auch ein zunächst noch diffuser Rechtsextremismus. Aus den Protestmärschen wurde eine Siegesfeier über die DDR.
Montagsdemonstration Leipzig, 08.01.1990 / Quelle: ABL / B. Heinze
Am 2. Januar 1990 beriet der Runde Tisch des Bezirkes Leipzig über den Ablauf der Montagsdemonstrationen. Aus der bisherigen Erfahrung wollte man im neuen Jahr keine Kundgebungen veranstalten. Das „Neue Forum“ übernahm keine Verantwortung mehr dafür. Hinzu kam, dass der Wahlkampf für eine freigewählte Volkskammer einsetzte. Doch genau aus diesem Grund revidierte der Runde Tisch seine Entscheidung. Hintergrund war die einseitige Nutzung des Medienmonopols durch die SED-PDS. Ab dem 22.Januar wurden wieder Kundgebungen veranstaltet. Auf den Demonstrationen verteilten westdeutsche Parteien und „Glücksritter“ verschiedenster Couleur ihre Botschaften.
Mo 08.01.1990 | ||
Mo 15.01.1990 | ||
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Montagsdemonstration Leipzig, 15.01.1990 / Quelle: ABL / B. Heinze
Die Aggressivität nahm im Januar 1990 nicht nur in Leipzig zu. Die Auseinandersetzungen waren vehement und mitunter handgreiflich. Die wenigen Einheits-„Skeptiker“ wollten den Einheits-„Forderern“ aber die revolutionäre Errungenschaft der Montagsdemonstrationen nicht allein überlassen. Eine kleine Minderheit meldete sich immer wieder gegen den deutschnationalen Mainstream zu Wort. Am 15. Januar wurde erstmals eine Gegendemonstration aktenkundig: „Ca. 200 Personen bewegten sich gegen 18:30 Uhr entgegen der allgemeinen Marschrichtung (im Sinne einer Gegendemonstration).“
Der klare Orientierungsbedarf der Masse hin zur deutschen Einheit und zum gleichen Lebensstandard wie in der Bundesrepublik war für manchen „Oktober-Demonstranten“ überraschend. Nicht nur viele Bürgerrechtler hatten sich bereits 1990 von den lautstarken Deutschland-Forderungen der Demonstranten abgewandt und ihnen das Feld überlassen.
Die Forderung nach der D-Mark (Transparent vom 12.02.1990) brachte die Perspektiven der Demonstranten auf den Punkt: westdeutscher Lebensstandard auch im Osten. Die Menschen in der DDR wollten am Reichtum des Westens partizipieren und gingen davon aus, dann nicht mehr „Deutsche 2. Klasse“ zu sein. Obwohl unumkehrbare Veränderungen in der DDR bereits vollzogen waren, hielt die Fluchtwelle in die Bundesrepublik an. Im ersten Vierteljahr 1990 verließen über 140.000 Menschen die DDR.
„Demo als Monster“
Die beginnende Demokratisierung im Herbst 1989 veranlasste viele Menschen ihre Eindrücke festzuhalten, Aufrufe zu sammeln, die neue Parteienlandschaft zu dokumentieren. Vielen Menschen wurde im Laufe der Zeit der Charakter der Leipziger Demonstrationen zu radikal und sie hielten sich fortan fern.
Lagefilm der Volkspolizei, 15.01.1990 (Quelle: SStAL)
„Hinter der Oper am Schwanenteich 10-40 mögliche Republikaner - alle möchten diese Leute sehen, als wenn sie weiße Elefanten wären! Ohne Öffentlichkeitswirksamkeit“
Im Sog des rechtsfreien Raumes der Straße artikulierte sich auch ein breites rechtsradikales Spektrum. Leipzig wurde zum Hotspot der rechtsextremen Szene. Westdeutsche Gruppierungen erkannten ihre Akzeptanz und schlugen daraus Kapital. Im Anschluss an die Montagsdemonstration vom 29. Januar gründete sich in Leipzig der erste Kreisverband der „Republikaner“ in der DDR. Eine Woche später versuchten 200 bis 300 Rechtsradikale, den Demonstrationszug anzuführen, was ihnen jedoch misslang.
Obwohl die „Republikaner“ Anfang Februar 1990 in der DDR verboten wurden, war die Volkspolizei und die Staatsanwaltschaft nicht bereit, eine Strafverfolgung einzuleiten. Man fürchtete, in das falsche Licht einer neuerlichen „Gesinnungsjustiz“ zu geraten. Gleichzeitig betrat die Polizei gewisses Neuland, denn in der DDR verfolgte bisher die Staatssicherheit derartige Delikte:
G. Straßenburg (Chef der Leipziger Volkspolizei) an J. Draber (Vorsitzende des Rates des Bezirkes) am 11.01.1990 (Quelle: SStAL):
"Die Aufdeckung und Aufklärung neofaschistischer und nationalistischer Aktivitäten war bisher auch ein wichtiger Arbeitsgegenstand des ehemaligen MfS / Amt für Nationale Sicherheit. Die Deutsche Volkspolizei […] steht gegenwärtig vor dem Problem der eigenständigen Bearbeitung solcher Vorkommnisse. […] Bisher geschaffene Dokumentationen und Arbeitsmaterialien des MfS / Amt für Nationale Sicherheit sind der Deutschen Volkspolizei nicht zugänglich. Die personelle Basis für eine umgehendere und wirksame Aufdeckung und Aufklärung von derartigen genannten Gruppierungen, Einzelpersonen und Handlungen ist in der Deutschen Volkspolizei nicht ausreichend strukturiert."
Jochen Läßig (Neues Forum), 29.01.1990: „Die Einheit Deutschlands und der Niedergang der SED …[Zugabe]… können nicht das einzige Thema sein.“
Das „Neue Forum“ kämpfte unterdessen mit wenig Resonanz seitens der Demonstranten um den Aufbau emanzipatorischer, basisdemokratischer Strukturen. Die Mehrheit legte ihr Schicksal in die Hände von Bundeskanzler Helmut Kohl.
Gotthard Weidel (Pfarrer), 29.01.1990: „Am letzten Montag wurden ‚Rote’ gejagt. - [Zugabe]“
Nachdem die Gegensätze in der Vorwoche eskalierten und von der Masse bejubelt worden, forderte Pfarrer Weidel vehement mehr Zivilcourage von den Demonstranten.
Ab Januar 1990 war der Wahlkampf in vollem Gange. Die Leipziger Demonstrationen verloren ihre Strahlkraft nicht nur durch die national-konservative Entwicklung. Die westdeutschen Altparteien nahmen in der ganzen DDR zunehmend massiven Einfluss auf die Meinungsbildung. Inhaltlich unterschied sich Leipzig daher nur wenig von anderen Demonstrationen. Allerdings blieben die Leipziger neben den Dresdner Demos die teilnehmerstärksten.
Mit Unterstützung der CDU-West einigten sich am 5. Februar die CDU der DDR, der Demokratische Aufbruch und die DSU (Deutsche Soziale Union) auf ein gemeinsames Wahlbündnis - "Allianz für Deutschland". Unter Rückgriff auf das westdeutsche „Wirtschaftswunder“ der 1950er Jahre stellte der CDU-Vorsitzende, Bundeskanzler Helmut Kohl, ein schnelles und nachhaltiges Wirtschaftswachstum in Ostdeutschland in Aussicht und prophezeite „blühende Landschaften“. Eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sollte den Weg zur deutschen Einheit ebnen.
Basisdemokratische Gruppen gingen von einem gleichberechtigten Einigungsprozess von Ost- und Westdeutschland aus. Doch der Offerte von Helmut Kohl zur „Übernahme“ konnte die Masse vor allem im Süden der DDR nicht widerstehen, zumal es zu diesem Zeitpunkt keine andere Konzeption außer die der Bundesrepublik gab. Die DDR-Politneulinge warben dagegen „nur“ mit Vertrauen und Emanzipation.
„Wir protestieren gegen Wahlkampfgroßveranstaltungen bundesdeutscher Politiker in der DDR.“
Die Forderung von Mitgliedern der neuen Gruppen, wonach sich die westdeutsche Politprominenz nicht in den DDR-Wahlkampf einmischen sollte, blieb zahnlos. Zu viele ostdeutsche Schwesterparteien profitierten von der finanziellen Hilfe.
Helmut Kohl: „Von hier aus nahm die friedlichste Revolution in der Geschichte der Deutschen ihren Ausgang.“
Im Rahmen des Wahlkampfes der „Allianz für Deutschland“ sprach Bundeskanzler Kohl am 14. März 1990 auf dem Platz der Montagsdemonstrationen vor 320.000 euphorischen Zuhörern. Damit wurde er Teil der Revolution und konnte sich als gesamtdeutscher Kanzler inszenieren. Mangels integrativer ostdeutscher Persönlichkeiten hatte sich die Masse Helmut Kohl zur ihrer Leitfigur erkoren.