Franziska Hauser: Äußerste Abweichung
Eigentlich wollte ich Fotografin werden. Wäre ich zehn Jahre älter, hätte ich jetzt ein romantisches Werk aus schwarzweißen DDR Fotos von heruntergekommenen leeren Straßenzügen mit vereinzelten Trabbis und Ladas, alten Leuten in Dederon-Kittelschützen und schmutzigen Kindern mit Straßenkatzen vorzuweisen. Herrlichste Street Photographie hätte ich machen können, Bilder mit denen die DDR Fotografenkollegen immer noch durch die Welt ziehen und die Betrachter erstaunen, weil das alles aussieht als wäre es aus dem vorletzten Jahrhundert. Aber nach dem Mauerfall gab es in der Stadt nichts mehr zu fotografieren außer Meere bunter Autos, Werbeplakate und saubere Fassaden. Alles wurde so laut und grell. Ich musste die Methode wechseln. Was nicht mehr zu fotografieren war konnte ich nur noch schreibend wiederherstellen. Ich beschrieb, was jetzt besonders anders ist als damals und im Westen staunten dann alle. Es funktionierte genauso wie die schmutzigen Schwarzweißfotos. „Was? Im Osten hats keine Hausfrauen gegeben?“
Damals, als es noch normal war, dass Frauen nicht erledigt waren, wenn sie ohne Ernährer Kinder bekamen, war es eine alberne Vorstellung, dass Mütter im Westen noch an den Herd gehörten. Das kam mir so infantil vor, wie ein Mutter-Vater-Kind-Spiel im Kindergarten. So war das doch zu Hause nicht wirklich, oder?
„Hier, kauf dir mal was Schönes,“ sagte man als die DDR vorbei war und drückte meiner stolzen starken Mutter gnädig einen Schein in die Hand, wie einem armen Kind. Die lachte und das verstand im Westen keiner. Geld schien plötzlich der höchste Wert im Leben zu sein und das verstand im Osten keiner. Jedenfalls nicht gleich. Aber nach einer Weile dann doch und neuerdings haben wir es ja sogar so eingerichtet, dass ein Kind ein Privatvergnügen ist, wie ein Segelboot. Das verstehen jetzt endlich alle. Ich schreibe also darüber wie es war und wie es ist und das ist leicht, weil es einfach so sehr anders war, als es jetzt ist und man darüber sehr viel schreiben kann. Das Geschriebene verkaufe ich und lebe davon. Allerdings nicht so richtig gut und das liegt vor allem daran, dass ich es nicht schnell genug verstanden hatte, mit dem Ernährer und dem Segelboot. Deshalb beherberge ich in meiner Wohnung neben meinen Kindern manchmal Gastschüler. Mit denen sitz ich dann in meiner Küche und zeige ihnen Berlin auf Plänen. Am interessantesten ist der Straßenbahnplan. Da muss ich ihnen gar nicht erklären wo Osten und wo Westen war, sondern nur die 13 Stationen markieren, die aus dem Netz jetzt in den Westen hinüberragen und dahin weiterführen, wo für mich als Kind die Stadt zu Ende war. Das können die sich nicht vorstellen und ich spiele mein Repertoire ab, weil ich, wie eine routinierte Stadtführerin nach dreißig Jahren weiß, welche äußersten Abweichungen sie staunen lassen.
Stell dir vor, im Osten gab es von allem nur eine Sorte. Milch, Butter, Mehl, Rasierapparate, Schuhe für die Jugendweihe, da musste man überhaupt nichts selbst entscheiden. Unsere Autos waren aus Hanf und Kunststoff zusammen geklebt und wir durften Kinder kriegen soviel wir wollten, selbst, wenn wir gar kein Geld hatten. Niemanden störte das. Unsere Seegelboote mussten wir sowieso selber bauen und schon mit sieben Jahren kannten wir ganz viele Kampflieder.
Ich versuche zu beschreiben, warum eine Mangelwirtschaft ein cooleres Gemeinschaftsgefühl erzeugt als eine Überflussgesellschaft und dann passiert es, dass ich meine geliebte friedliche stille farblose Kindheit in diesem kleinen Land idealisiere und auf Leser treffe, die sich der Idealisierung auch gerne hingeben würden. Aber das darf man nicht. Es war schließlich ein Unrechtsstaat. Wie kann man in einem Unrechtstaat eine sorglose Kindheit gehabt haben? Geschweige denn sorglose Eltern? Am Herd zu bleiben, hätte meine Mutter zwar wahnsinnig gemacht, aber so richtig zufrieden hab ich diese Eltern auch nicht in Erinnerung und es war außerdem ziemlich aufregend als wir am 9 November 89 nachts im Trabbi zur Bornholmer Brücke fuhren, wo die Straßenbahnlinie zu Ende war, seit ich das Wort Straßenbahn sagen konnte.
Jetzt fährt sie über die Brücke und dann weiter in einen Westbezirk, der heute nichtmehr anders riecht, andere Geräusche macht und andere Farben hat als die Ostbezirke.
Und meine Kinder sagen heute Tram.
Damals war ich fünfzehn, wie meine Tochter jetzt und die Welt öffnete sich in dem Moment, in dem ich mich gerade gefragt hatte, warum meine Großeltern es eigentlich für richtig gehalten hatten, dass sie geschlossen bleiben musste.
Inzwischen habe ich verstanden, warum sie das fanden. Aber die Ideologie, die hinter jeder Zwangslage steckt, kann offenbar immer nur von der Generation verstanden werden, die selbst erlebt hat, dass normale Menschen sich in Wahnsinnige verwandeln können. Dass sich diese Erfahrung offenbar nicht vererben lässt, ist zum Verzweifeln und zugleich zum Hoffen.
Franziska Hauser, geboren 1975 in Pankow/Ostberlin, hat zwei Kinder. Sie studierte Fotografie an der Ostkreuzschule bei Arno Fischer und ist Autorin. Im Frühjahr 2015 erschien ihr Debütroman Sommerdreieck, der den Debütantenpreis der lit.COLOGNE erhielt und auf der Shortlist des aspekte-Literaturpreises stand. Ihr aktueller Roman „Die Glasschwestern“ erschien im Februar 2020.