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Politische Geschichtsmythen

Wenn wir von Mythen sprechen, so haftet dem Konstrukt etwas Negatives, politisch Instrumentalisiertes oder gar Demagogisches an. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die gegenwärtige unreflektierte Verbreitung „alternativer Fakten“ oder den Einzug einer „postfaktischen“ Wahrnehmung in den gesellschaftlichen Diskurs.

Quelle: ABL

Dabei sind Mythen im Allgemeinen für die Gesellschaft überaus wichtig. Sie sind Bestandteil des Gegenwärtigen von Geschichte. Komplexe historische oder politische Prozesse müssen auf Sinngeschichten und Konstruktionen reduziert werden, um Identität und Integration einer sozialen Gruppe befördern zu können. Geschichte wandelt sich in Geschichten und wird „fassbar“ gemacht. In der Erinnerung der Menschen vollzieht sich das Geschehen nicht nach objektiven Kriterien - entgegen dem Anspruch der Geschichtswissenschaft. Daher werden Teile der Geschichte „erzählt“, weil sie zur Konstituierung einer Gruppe in der Gegenwart beitragen. Diese müssen eine positive Wirkung auf die Herausbildung von Identität haben.

Quelle: ABL
Mythenbildung politischer Gemeinschaften (z.n. Herfried Münkel)

Damit die Bindung einer sozialen Gruppe stabil bleibt, müssen Mythen auf sich ändernde Rahmenbedingungen (Armut, Diskriminierung, Generationswechsel) eingehen können. Dabei geht es um periphere Veränderungen mit einem stabilen narrativen Kern. Die kulturellen Bilder der Gesellschaft und die Alltagsbilder ihrer Mitglieder müssen weitgehend übereinstimmen. Beherrscht jedoch eine der beiden Erzählweisen die Erinnerung oder tritt die Alltagserzählung und das kulturelle Gedächtnis in Konkurrenz, so wird der Mythos für die Gemeinschaft unbrauchbar. Darf dem Geschichtsbild nichts hinzugefügt und nichts genommen werden, wird es zum Dogma.

Mythen tradieren sich mittels der kommunikativen Vermittlung durch Politik, Literatur, Publizistik, Film, Kunst oder Schule. Hier werden Bilder einer gemeinsamen Vergangenheit erzeugt.

NS-Volkswohlfahrt, 1937 | Quelle: Bundesarchiv / Plak 003-015-019Wenn der Mythos zur Legende wird.
„Opa war kein Nazi“

Die negative Konnotation von Geschichtsmythen entstand nicht zuletzt durch die Instrumentalisierung autoritärer Ideologien. Im 20. Jahrhundert entstanden politische Mythen in inflationärer Weise. Deren Wirkungsmächtigkeit war an das jeweilige politische System gebunden. Es handelte sich um Konstruktionen, die propagandistische Funktion hatten. So sollten z.B. die Beschwörung der NS-Mythen vom „Herrenmenschen“ oder vom „Volk ohne Raum“ Ausgrenzung, Rassenwahn und Krieg rechtfertigen. Die Alltagserzählungen haben diesbezüglich eine viel längere Beständigkeit. Der individuelle Opportunismus oder die bedingungslose Partizipation am NS-System erzeugten und erzeugen noch heute („Opa war kein Nazi“) einen individuellen Erklärungsbedarf angesichts des kulturellen Selbstverständnisses vom verbrecherischen Regime. Einer Studie der Universität Bielefeld und der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ aus dem Jahr 2018 zufolge meinten die Befragten, unter ihren Vorfahren waren ebenso viele Täter wie Helfer bzw. Opfer. Die Alltagsbilder schaffen einen Mythos („Es war nicht alles schlecht.“), der bei genauerer Betrachtung zur Legende wird (Autobahnbau, wirtschaftlicher Aufschwung, Stellung der Frau - Mutterkult, etc.)

 

Montagsdemonstrationen – ostdeutsche Demokratiegeschichte

Mit dem Scheitern der gesellschaftspolitischen Alternative in Ostmitteleuropa 1989/91 gingen die westlichen Demokratien als „Sieger“ aus der globalen Blockkonfrontation hervor.

US-Präsident George Bush, 28.01.1992: „Durch die Gnade Gottes hat Amerika den Kalten Krieg gewonnen.“

Der „Unterlegene“ wurde zum Juniorpartner bei der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. Im Glanz des Triumphs entstand das selbstsichere Gefühl die bestehende demokratische Ordnung habe „Ewigkeitsgarantie“. Doch die Herausforderungen gegenüber neuen autoritären Ambitionen stellen diese Gewissheit in Zweifel.

Die Bundesrepublik ist ein nahezu mythenfreies Land. Während andere Nationen positive Großerzählungen haben (Frankreich - Revolution mit globaler Wirkung, Großbritannien - imperiale Epoche, Polen - Untergang und Wiederauferstehung), ist für Deutschland ein zweimaliges Scheitern prägend. Die politischen Veränderungen nach 1945 entstanden nicht durch einen revolutionären Aufstand des Volkes, sondern durch die Macht der Alliierten. Die Widerstandserzählungen der alten Bundesrepublik (Attentat vom 20.Juli 1944) und der DDR (kommunistischer Widerstand) hatten im Kalten Krieg eine legitimatorische Funktion. Sie haben aber im 21. Jahrhundert als Wertevermittlung, wenn um die Grundsätze der Demokratie gerungen wird, keine Wirkmächtigkeit. Während sich unter den Akteuren des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 nur wenige Demokraten befanden, unterdrückte der DDR-„Antifaschismus“ eine demokratische Teilhabe.

Was könnte also heute sinnstiftend für ein liberales demokratisches Staatswesen sein?

Meiningen, 19. November 1989 | Quelle: E. Driesel
Meiningen, 19. November 1989 | Quelle: E. Driesel

Der Volksaufstand von 1989 in der DDR mit seiner Verankerung in den ostmitteleuropäischen Emanzipationsprozessen erzählt eine rein ostdeutsche Demokratiegeschichte. In der gesamtdeutschen Erinnerung überstrahlt der Mauerfall am 9. November 1989 als Beginn der Einheitsbewegung die auf die DDR bezogene Demokratiebewegung der Montagsdemonstrationen im Frühherbst 1989. Die aus diesen Ereignissen resultierende Sinnstiftung für die Demokratie korreliert weiterhin mit den Erfahrungen der sozioökonomischen Transformation ins geeinte Deutschland.

Eine selbstkritische Auseinandersetzung sollte die Geschichte von ihren progressiven Aufbrüchen her begreifen. Bestimmt der Kontrast ernüchternder Folgen des Einigungsprozesses die Erzählung, so entstehen Legenden.

Wahlkampf Sachsen, 2019 | Quelle: ABLWenn der Mythos zur Legende wird.
„Wende 2.0“

Nationalkonservative bis nationalistische Wertvorstellungen propagieren: „Deutschland muss wieder Deutschland werden.“ Doch welches historische Vorbild ist gemeint? Die AfD fordert ein Ende der Orientierungsfunktion, die das Erbe des Nationalsozialismus auch für den dritten deutschen Nachfolgestaat hat. Für die Legitimation ihres romantisierenden Deutschlandbildes kultiviert sie die massenkompatible „Wende“-Erinnerung an 1989/90. Die Gegenwart widerspricht demnach den einstigen Erwartungen. Über den Mythos werden hier Menschen zusammengeschweißt, die davon ausgehen, dass sie ähnlich wie ihr Vorbild auch diesmal erfolgreich sein werden. Mit dieser Analogie versteht es die AfD wie keine andere Partei, die ostdeutsche Wählerschaft in ihrem historischen Kontext zu verorten und ihr eine historische „Heimat“ zu geben. Dabei wurden die „blühenden Landschaften“ nicht gegen die Staatsgewalt erkämpft, sondern bei einem „Beitritt“ der DDR von der West-CDU in Aussicht gestellt. Diese Perspektive wurde daraufhin in der DDR demokratisch gewählt, während die Voraussetzungen für eine zunächst noch offene Wahl die Menschen revolutionär erkämpften. Die „Wende“-Erinnerung und die „Revolutions“-Erinnerung konkurrieren um den historischen Kern.

Erinnerungen an 89 | Quelle: ABL

Europäische Mythen

Abgesehen vom EURO fehlen der Europäischen Union starke Symbole oder gar Mythen, um den Menschen eine gemeinsame Sinnstiftung zu vermitteln. Doch fehlt diese, so bleibt der Eindruck, die EU ist eine rein wirtschaftlich orientierte Zweckgemeinschaft.

Plakat zum Marshallplan, 1950 | Quelle: Wikimedia / gemeinfreiMarshall-Plan: Freiheit und Wohlstand
Die Staaten West- und Südeuropas verband nach dem II. Weltkrieg der amerikanische Marshall-Plan. Das Wirtschafts-Förderungsprogramm der USA verhalf den Staaten der freien Wirtschaft zu einem raschen Aufschwung. Das Fundament der heutigen Europäischen Union bildeten die Römischen Verträge von 1957. Darin wurde u.a. ein freier Waren- und Kapitalverkehr vereinbart. In Abgrenzung vom sowjetischen Machtimperium stützte sich die Gemeinschaft auf gemeinsame Werte: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Gleichheit.

Briefmarke zum RGW, 1989 | Quelle: Wikimedia / gemeinfreiRGW: Kraft durch Gemeinsamkeit
Als Antwort auf den Marshall-Plan installierte die Sowjetunion 1949 den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und bündelte darin die sozialistischen Länder unter ihrer Vorherrschaft. Durch die Abstimmung der nationalen Staatswirtschaftspläne sollte eine Wirtschaftsteilung in einem „sozialistischen Markt“ die Produktivkraft gegenüber dem Kapitalismus erhöhen. Eine gleichberechtigte Politik gab es nicht. Als Wertekanon diente einzig die verordnete sozialistische Ideologie. Das Zweckbündnis löste sich 1991 geräuschlos auf.

Nach dem Ende des Kalten Krieges gab es die Hoffnung, dass erstmals ein friedliches Europa in Freiheit und Wohlstand zusammenwachsen kann. Ausdruck dessen war die Gründung der EU mit dem Jahr 1993 (Vertrag von Maastricht).

Neues Forum, 1990 / Quelle: ABL
Neues Forum, 1990 / Quelle: ABL

Doch schon 1991 mündeten ethnische Konflikte auf dem Balkan in einen neuen Krieg. Multiethnische Staaten (Sowjetunion, Jugoslawien, Tschechoslowakei) lösten sich auf und es entstanden neue (alte) Nationalstaaten. Europa als Idee stand mitten in einem dynamischen Prozess von nationalstaatlicher Separation und Fusion.

Durch die wirtschaftlichen Prioritäten der Gemeinschaft verblasste die gesellschaftspolitische Idee. Das Vertrauen in die EU erschütterten vor allem die Finanzkrisen nach 2007 und die Asylkrise ab 2015. Seitdem streiten Politiker, Publizisten und Wissenschaftler um die Relevanz einer europäischen Sinnstiftung. Während manche darin eine Vereinheitlichung Europas befürchten, in der die nationale Vielfalt verloren ginge, betonen andere gerade die Verbindung verschiedener Kulturen als die Wurzeln Europas. Europäische Regionen verstanden es auf engstem Raum, Vielfalt zu ermöglichen – vorausgesetzt die Verschiedenartigkeit wurde nicht politisch instrumentalisiert.

Welche Erzählung braucht Europa im Spannungsfeld vielfältiger Wanderungsbewegungen und multikultureller Gesellschaften im 21. Jahrhundert?

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