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2003 – Hier läuft das Volk – Wir wollen keinen Krieg

Hintergrund – 3. Golfkrieg | Montagsdemonstrationen in Leipzig

Hintergrund – 3. Golfkrieg

John Galvin, NATO-Oberbefehlshaber der US-Truppen in Europa, 1992: "Den Kalten Krieg haben wir gewonnen. Nach einer siebzigjährigen Abirrung kommen wir nun zur eigentlichen Konfliktachse der letzten 1300 Jahre zurück. Das ist die große Auseinandersetzung mit dem Islam."

Quelle: US-Publikation, 1980 / Quelle: archive.orgIn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Nahe und Mittlere Osten zum geostrategischen Objekt der USA und der Sowjetunion. Beide Gegenspieler installierten bzw. stützten autokratische Regime.
Um einen drohenden Volksaufstand gegen das kommunistische Regime in Afghanistan zu verhindern, marschierten 1979 sowjetische Truppen in das Land ein. Die USA unterstützten ihrerseits die Guerilla-Gruppierungen (Mudschahedin). Aus dieser Bewegung heraus rekrutierten sich die späteren Islamisten. Als der damalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski im Jahr 1998 von der französischen Zeitung Le Nouvel Observateur gefragt wurde, ob man sich damit nicht zukünftige Terroristen, geschaffen hätte, antwortete er: „Was ist in der Geschichte der Welt am wichtigsten? Die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetimperiums? Einige durcheinander gewirbelte aufgehetzte Moslems oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?“

Hoffte man nach dem Ende des Kalten Krieges die Zeiten militärischer Gewaltandrohung wären vorbei, so wurde Anfang der 1990er Jahre der Krieg als Mittel der Politik zur „Normalität“, wenn lokale Konflikte globale Interessen berührten. Als im August 1990 Irak das Nachbarland Kuwait annektierte und eigene machtpolitische Interessen verfolgte, marschierte die USA in Kuwait ein (2. Golfkrieg). Noch im 1. Golfkrieg zwischen Irak und Iran (1980 bis 1988) hatte die USA den irakischen Machthaber Saddam Hussein unterstützt.

Quelle: New York, 11.09.2001 / Quelle: archive.orgBis ins Mark erschüttert wurde die USA, als die außenpolitischen Konflikte das eigene Land erreichten. Am 11. September 2001 verübten islamistische Terroristen grauenvolle Anschläge mittels Passagierflugzeugen auf die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Symbole der amerikanischen Macht: das World Trade Center, das Weiße Haus und das Pentagon. Dabei kamen knapp 3.000 Menschen ums Leben.
US-Präsident George W. Bush sagte dem internationalen Terrorismus den Kampf an. Verantwortlich wurde das Terrornetzwerk al-Qaida gemacht. Afghanistan unter dem Talibanregime galt als der Hort des Terrorismus. Bereits einen Monat später begannen die Bombardements auf Taliban-Stellungen. Afghanistan ist seitdem nur durch internationale militärische Hilfe regierbar.

Mit militärischer Gewalt sollten Staaten neu geordnet werden. Der „Krieg gegen den Terror“ erfasste als nächstes Land den Irak. Dessen Diktator Saddam Hussein verfolgte seit über 20 Jahren eine Hegemonialpolitik ohne Rücksicht auf die Nachbarn. Die Unterdrückung der kurdischen Autonomiebestrebungen gipfelte in einem Giftgasangriff auf die Zivilbevölkerung im Nordosten des Landes (1988). Jegliche internationalen Proteste ignorierte der Machthaber. Doch eine Verstrickung in den internationalen Terrorismus konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Trotzdem bereiteten die USA monatelang einen dritten Waffengang am Golf vor. Offizielles Ziel war es, die im Irak vermuteten Massenvernichtungswaffen zu vernichten, bevor sie möglicherweise in terroristische Händen gelangen könnten.

Quelle: picture-alliance / Tim ClaryDie amerikanische Politik wollte an dieses Szenario glauben. Dazu bediente sie sich fragwürdiger Beweise. US-Außenminister Colin Powell präsentierte am 5.2.2003 vor dem Weltsicherheitsrat in New York u.a. ein Röhrchen mit weißem Pulver, das angeblich Milzbrand-Erreger für biologische Kampfstoffe enthielt. Dem vorausgegangen waren monatelange UN-Waffeninspektionen im Irak auf der Suche nach Massenvernichtungswaffen – jedoch ohne Erfolg. Dementsprechend zurückhaltend reagierte der Weltsicherheitsrat auf Powells Interpretation. Erst nach Beginn des Krieges räumten die Geheimdienste Fehler ein. Colin Powell, 2013: „Ja, ich war verärgert, und bin es noch immer. Und ja, ich wünschte, es gäbe nicht so viele unbeantwortete Fragen. Und ich werde wütend, wenn Blogger mir vorwerfen, ich hätte gelogen – und gewusst, dass die Informationen falsch waren. Und ja, ein Makel des Versagens wird immer an mir und meiner Präsentation vor dem UN-Sicherheitsrat haften bleiben.“
(Colin Powell: Leadership. Lehren, die mich durchs Leben führten. 2013)

 

Letztendlich trug Powells Auftritt entscheidend dazu bei, dass am 20. März 2003 die USA und Großbritannien auch ohne UNO-Mandat den Irak angriffen. Politisch gestützt wurde der Krieg durch eine „Koalition der Willigen“ bestehend aus weiteren 46 Staaten. Darunter befanden sich einige NATO-Partner, Entwicklungs- und Schwellenländer sowie fast alle ehemaligen Ostblockstaaten. Deutschland unter der rot-grünen Schröder-Regierung lehnte den Krieg ab, auch wenn es im Rahmen seiner regulären Bündnisverpflichtungen wahrscheinlich mehr Unterstützung leistete als mancher Koalitionspartner.

TV Channel Nine (Australien), 23.3.2003: „Live dabei“
Der Krieg wurde für das Fernsehen inszeniert: Krieg als Reality-TV. Die Zuschauer waren live dabei.
Die Presseinformationen kontrollierte das Militär. Dazu integrierte man Journalisten in die militärischen Einheiten.
Reale Tote gab es nicht – wie im Videospiel.
Doch nicht nur die amerikanischen Medien ließen sich vor den Karren der Propaganda spannen.

In diesem von Feindbildern geprägten Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“ wurden die Zivilbevölkerung und die zivilisatorischen Errungenschaften wie die Demokratie und die Pressefreiheit massiv in Mitleidenschaft gezogen.

Nach dreiwöchigem Krieg war das Regime von Saddam Hussein gestürzt. Am 1. Mai erklärte US-Präsident George Bush die „größeren Kampfhandlungen“ für beendet. Es folgte ein Guerillakrieg gegen die Besatzer und ein Krieg konkurrierender lokaler Milizen untereinander.

Quelle: ABL

Montagsdemonstrationen in Leipzig

Bereits zu Beginn des Jahres 2003 hatte sich der Konflikt derart zugespitzt, dass die Diplomatie am Ende war. Die Kriegsmaschinerie war nicht mehr aufzuhalten. In dieser Situation artikulierten sich weltweite zivilgesellschaftliche Proteste. Auch in Deutschland einte die Ablehnung des Krieges auf bisher selten dagewesene Weise das Land. Die Leipziger Montagsdemonstrationen konnten daher wie ein historisches Signal wirken. Während in über 100 Städten meist an den Wochenenden demonstriert wurde, protestierten die Leipziger montags. Am 13. Januar 2003 fand im Anschluss an das Friedensgebet die erste Montagsdemonstration gegen den drohenden Krieg statt.

Pfr. Christian Führer, März 2003 | Quelle: Wolfgang Zeyen/PunctumDer Mythos der Montagsdemonstrationen wurde nicht zuletzt durch die „Widerstandsaura“ von Pfarrer Christian Führer belebt, der nach 1990 die Rolle als Symbolfigur der `89er Ereignisse in Leipzig eingenommen hatte. Er kolportierte die Erinnerung von der „Revolution, die aus der Kirche kam“. Kontinuierlich verfolgte Führer das Konzept der Friedensgebete weiter und thematisierte darin politische Zeitfragen (2. Golfkrieg, Balkankrieg). Auch der authentische Ort der Nikolaikirche half, die Revolutionserinnerung auf die Gegenwart zu beziehen. Wieder spielte die Kirche im Stadtzentrum eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung verschiedener Interessengruppen.
Bereits zur Christvesper am Heiligabend 2002 hatte Pfr. Führer zu täglichen Mahnwachen an der Nikolaikirche gegen den bevorstehenden Krieg aufgerufen. Angefangen hatte alles mit 18 Teilnehmern.

 

Quelle: ABL

 

10 Fragen an Pfr. Führer, 19.2.2003 | Quelle: Leipziger VolkszeitungChristian Führer: „Diese Erfahrung lebt weiter.“
Im Interview mit der Leipziger Volkszeitung (LVZ) verweist Pfarrer Führer auf den mobilisierenden Charakter der Friedensdemonstrationen an den Montagen. Diese gäbe den Menschen die Zuversicht, dann auch „Unmögliches möglich“ machen zu können.
Hinweis: PDF Download

Im Zentrum der Mobilisierung stand die Nikolaikirche. Jeder Demonstration ging ein Friedensgebet voraus. Ansprachen und Statements fanden damit unter einem religiösen Selbstverständnis statt. Die Verwendung des Zeichens der DDR-Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ spiegelte weiterhin den pazifistisch-religiösen Charakter des Protestes in der Tradition der 1980er Jahre wider. In Leipzig hielt man an dem eingeübten wöchentlichen Rhythmus fest und beteiligte sich nicht am weltweiten Aktionstag am 15. Februar 2003 – einem Samstag.

Montagsdemonstration nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche, März 2003 | Quelle: Wolfgang Zeyen/Punctum
Montagsdemonstration nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche, März 2003 | Quelle: Wolfgang Zeyen/Punctum

Christian Führer, Pfarrer St. Nikolai, 2003: „Die Nikolaikirche ist für viele wie schon in der Wendezeit 1989 ein Hort der Hoffnung. Wie damals wollen sich die Leute einmischen und nichts der Politik überlassen. Die Leipziger wurden weder von einer Organisation noch von einer Partei herbeigerufen. – Hier läuft das Volk.“

„Hier läuft das Volk“: Das Spektrum der Kriegsgegner und Demonstranten reichte von autonomen Gruppen über Globalisierungsgegner, sozialistische, kirchliche, frauen- und jugendbewegte Gruppen bis hin zu den Parteien, Gewerkschaften und Kirchen.

Schüler*innen vor der Nikolaikirche, März 2003 | Quelle: Wolfgang Zeyen/PunctumDas ideologiefreie Thema beförderte das Engagement von vielen jungen Menschen. Die Demonstrationen waren stark durch Schülerproteste geprägt.
Zu den Friedensgebeten musste Pfarrer Führer die „Neulinge“ zunächst aufklären, dass man in einer Kirche weder Beifall klatscht noch telefoniert.
Die Jugendlichen verliehen ihrem Anliegen noch größeren Nachdruck, in dem in verschiedenen Städten auch Schulstreiks organisiert wurden. Ähnlich wie bei den späteren „Fridays for Future“- Demonstrationen kam es zum öffentlichen Konflikt zwischen Schulpflicht, Versammlungsfreiheit und zivilen Ungehorsam.

Der Wolf im Schafspelz
Mitte März 2003 scheiterte das von der Bundesregierung angestrebte NPD-Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Der Beschluss wurde medial jedoch vom Irakkrieg überschattet. Dieser Umstand versetzte die Neonazi-Partei in die Lage, sich ab April „schleichend“ in die Friedensbewegung einzureihen, in der Hoffnung, dadurch Anschluss an die gesellschaftliche Mitte zu finden. Unter dem Verdikt des „Friedens“ demonstrierte die NPD gegen die USA und Israel, indem sie sich auf die Seite Iraks und ihres Diktators stellte. Motiviert war ihr Handeln von Antiamerikanismus und Antisemitismus. Ein Härtetest für Demokraten – denn gerade in kleineren Städten sahen sich lokale Akteure im Umgang mit der NPD verunsichert: Da die Partei nicht verboten sei, gehöre sie also zum demokratisch legitimen Spektrum.

 

Insgesamt gab es siebzehn Montagsdemonstrationen. Im unmittelbaren Anschluss an die Friedensdemonstrationen rief die Kirchliche Erwerbsloseninitiative Leipzig (gegründet von Pfarrer Führer) nach dem Friedensgebet zur Montagsdemonstration für den 5. Mai 2003 auf. Ein weiteres soziales Aktionsfeld belebte den Mythos.

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