Seit 2014 – Pegida – Nur wir sind das Volk
Hintergrund–Asyldebatten | Pegida – Nur wir sind das Volk | Fazit
Hintergrund–Asyldebatten
Seit Ende der 1970er Jahren ringt die (west-) deutsche Gesellschaft um eine Antwort auf die globalen Probleme von Flucht und Vertreibung, Asyl und Migration. Auf der einen Seite stehen neben dem moralischen Gewissen die von Deutschland eingegangenen internationalen Konventionen zu Menschenrechts- und Flüchtlingsfragen sowie die eigene Geschichte - auf der anderen die ablehnende Haltung weiter Teile der Bevölkerung gegenüber Ausländern. Die ausländerpolitische Diskussion setzte sich in der Mitte der Gesellschaft fest. Vor allem die Unions-Parteien merkten, dass man durch den Stimmungswandel in der Bevölkerung Mehrheiten verlieren kann. Begriffe wie „Unterwanderung“ und „Überfremdung“ heizten die Debatte an. Ausdruck dessen war 1983 die Gründung der Partei „Die Republikaner“ durch ehemalige CSU-Mitglieder.
In der monokulturellen DDR gab es kein individuelles Recht auf Asyl. Es war eine Kann-Bestimmung und von der „Gnade“ des Staates abhängig. Die größte Gruppe an Ausländern (nach der Sowjetischen Armee) bildeten die sogenannten „Vertragsarbeiter“. Durch bilaterale Abkommen mit verschiedenen Staaten (Vietnam, Angola, Mosambik, Kuba, Polen), sollte der Arbeitskräftemangel in der DDR kompensiert werden. Die Menschen wurden jedoch strengen Verhaltensregeln unterworfen und in Wohnheimen von der Bevölkerung separiert. Eine Integration war nicht vorgesehen. Die „verordnete Solidarität“ durch die SED traf auf breite ausländerfeindliche Ressentiments im Alltag. Diese verstärkten sich mit der abnehmenden Akzeptanz des Systems in den 1980er Jahren bis hin zur rechtsradikalen Gewalt. Neid (Konsumkonkurrenz) und Gerüchte prägten die Wahrnehmung der „Fremden“.
Quellen: Statistisches Bundesamt
Die innenpolitische Diskussion in der Bundesrepublik verschärfte sich durch den verstärkten Zuzug Ende der 1980er Jahre aus Osteuropa, aber vor allem durch den brutalen Bürgerkrieg in Jugoslawien in den 1990er Jahren mit ca. 350.000 Flüchtlingen.
Änderung des Grundgesetzes - Asylkompromiss 1992
Eine Änderung des Grundgesetzes bedarf einer 2/3 Mehrheit im Bundestag. Die CDU benötigte dafür die Stimmen von SPD und FDP. Beide Parteien hielten jedoch am bisherigen Asylrecht fest und verurteilten die Ausnutzung des Diskurses für Wahlkampfzwecke.
Deutschland wurde 1991/92 von einer hoch emotionalisierten Asyldebatte beherrscht. Ausländer und Asylbewerber erschienen als Betrüger und Bedrohung, die auf Kosten der Mehrheitsbevölkerung die deutschen Sozialsysteme ausnutzten würden.
Im Sommer 1991 befand sich der Streit auf seinem bisherigen Höhepunkt. In einer langangelegten Kampagne mit vorgefertigten Anträgen und Resolutionen wies CDU-Generalsekretär Volker Rühe seine Land- und Stadträte an, das Thema auf allen parlamentarischen Ebenen zu behandeln. Demnach verkrafteten die Kommunen den „Ansturm“ nicht mehr und er machte die SPD dafür verantwortlich.
„Bild“, 30.7.1991: „Die Deutschen sind weder ausländerfeindlich, noch sind sie Rechtsextremisten. Aber wenn der ungehemmte Zustrom von Asylanten weiterwächst, wird auch die Gewalt gegen sie zunehmen. Sind unsere Politiker unfähig, das zu begreifen?“
Die polemische Auseinandersetzung wurde vor allem von der „Bild“-Zeitung getragen. Unter Billigung von Teilen der Bevölkerung radikalisierte sich das rechte Milieu. Ende September 1991 kam es in mindestens 36 Städten zu gezielten Überfällen auf Ausländer. Höhepunkt bildete die sächsische Kleinstadt Hoyerswerda, wo Asylbewerberheime tagelang belagert und angegriffen worden, ohne dass der Rechtsstaat eingriff.
„Bild“, 21.9.1991: „Sensationelle Umfrage. Asyl: Grundgesetz ändern! 98% dafür!
Eine der ersten, die gesamte Bundespolitik betreffende Demokratieerfahrung der Ostdeutschen war diese von Gefühlen und Gerüchten geprägte Asyldebatte. Die Gewalt gegen Ausländer wurde darin zwar nicht akzeptiert, aber als nachvollziehbar bewertet.
Rostock Lichtenhagen - 22. bis 26. August 1992
Rostock Lichtenhagen, August 1992 | Quelle: picture-alliance / Jürgen Sindemann
In dem Rostocker Plattenbau befand sich die zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber von Mecklenburg-Vorpommern. Bereits im Frühjahr 1992 war das Wohnheim überfüllt. Neuankommende Asylbewerber blieben sich selbst überlassen und sie campierten in den Grünanlagen. Die nicht nur in hygienischer Hinsicht untragbaren Zustände dauerten wochenlang an und wurden von Verwaltung und Politik ignoriert. Eine Zuspitzung der Situation nahm man billigend in Kauf.
Am 22. August eskalierte die Lage und dauerte vier Tage an. Mit Steinen und Molotowcocktails griffen meist Jugendliche die Aufnahmestelle an. Rund 3.000 Anwohner feuerten die „Deutschland den Deutschen“-rufende Menge an. Nachdem das Asylbewerberheim am 24. August geräumt wurde, folgten Straßenschlachten mit der Polizei, die sich überfordert zurückzog und das Terrain sich selbst überließ. Die Angriffe richteten sich nun gegen das benachbarte vietnamesische Wohnheim, in dem sog. "Vertragsarbeiter" lebten. Erst am Morgen des 26. August bekam die Polizei die Lage mit Tränengas und Wasserwerfern in den Griff.
Wohnheim vietnamesischer "Vertragsarbeiter", 24.08.1992 | Quelle: Martin Langer
Pressekonferenz am 24.8.1992 in Rostock: Bernd Seite (CDU), Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern: „Dass, das umschwappt, wenn man in der Menge ist, dafür habe ich Verständnis.“
Rudolf Seiters (CDU), Bundesinnenminister: „Wir müssen gegen den Missbrauch des Asylrechts handeln, der dazu geführt hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom bekommen haben.“
Im Jahr 1992 gab es über 2.000 Anschläge auf Ausländer. Dabei starben 17 Menschen. Im Oktober 1992 prophezeite Bundeskanzler Helmut Kohl sogar einen drohenden Staatsnotstand. Damit zielte er jedoch nicht auf die Gewaltausbrüche im Land, sondern auf die vielen Flüchtlinge.
Am 6. Dezember 1992 gab die SPD nach und man einigte sich mit CDU/CSU und FDP auf ein neues Asylrecht und die sog. „Drittstaatenregelung“ wurde beschlossen.
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 16a, 1993:
(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.
[…]
Dämonisierung des Islam
Christian Wulff, Bundespräsident, 3.10.2010: „Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“
Nichts ahnend, was der Satz wenig später auslöste, sagte Bundespräsident Wulff das zu dieser Zeit Selbstverständliche. Die relativierende Bezugnahme auf die christlich-jüdische Geschichte wich im allgemeinen Sprachgebrauch dem Absoluten: „Der Islam gehört zu Deutschland.“ Ein Satz, der Einzug in den politischen Diskurs hielt.
Thilo Sarrazin: „Deutschland schafft sich ab“
Der Ökonom und Banker Thilo Sarrazin veröffentlichte 2010 einen Bestseller, der zwei Jahre später bereits rund 1,5 Millionen mal verkauft wurde. Sarrazin entwarf auf der Basis der Eugenik einen biologischen Zusammenhang zwischen der muslimischen Migration und einem daraus resultierenden geistig und materiell verarmten Deutschland in der Zukunft: Muslime bekämen mehr Kinder als deutsche Familien und hätten dazu genetisch bedingte Bildungsdefizite.
Der eigentliche Erfolg Sarrazins bestand aber darin, dass er behauptete, Sprachtabus im politischen Diskurs zu brechen. Diese Haltung fand breite Resonanz. Es entwickelte sich eine Kultur der „öffentlichen Empörung“, die sich vorallem in anonymen Online-Kommentaren niederschlug. „Das wird man ja noch sagen dürfen!“ rechtfertigte die Grenzüberschreitungen des sozialen Anstandes und suggerierte, es gäbe keine Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik.
Hooligans gegen Salafisten - HogeSa
Zu einer Bestätigung und Manifestierung der islamfeindlichen Einstellungen trug das terroristische Agieren des „Islamischen Staates“ (IS) bei. Die salafistischen Milizen eroberten im Jahr 2014 weite Teile des Irak und Syriens und riefen ein neues Kalifat aus. Parallel dazu verübten deren Anhänger Attentate und Terroranschläge auf der ganzen Welt. Auch in Deutschland versuchte der IS über salafistische Vereine, neue Kämpfer zu rekrutieren.
Eine Radikalisierung der islamfeindlichen Stimmung betrieb HogeSa. Auf facebook organisierten sich Hooligans verschiedener Fußballvereine. In Dortmund kam es am 28. September 2014 zu einem ersten Protest mit ca. 300 Teilnehmern. Einen Monat später verbündeten sich Hooligans und rechtsradikale Gruppen in Köln und bildeten einen ca. 4.000-Mann-starken gewaltbereiten Demonstrationszug, den die Polizei nicht unter ihre Kontrolle bringen konnte. Bereits Ende des Jahres zerfiel die Bewegung, doch die Netzwerke bestanden weiter.
HogeSa wurde zu einem wichtigen Impuls für die Pegida-Bewegung, die sich zur selben Zeit in Dresden rekrutierte.
Bereits in den Jahren 2013/14 entstanden unter der Führung der NPD an verschiedenen Orten sogenannte „Bürgerbewegungen“, die gegen örtliche Flüchtlingsunterkünfte demonstrierten: „Lichtellauf“ in Schneeberg (Erzgeb.), „Nein zum Heim“ in Berlin-Marzahn, „Leipzig steht auf“ in Leipzig-Schönefeld …
Krieg in Syrien
Vom „Islamischen Staat“ 2014/15 zerstörtes und entvölkertes Dorf nahe Damaskus / Quelle: Samer Hamdan
Seit März 2011 tobt in Syrien ein Stellvertreterkrieg. Der anfänglichen Auseinandersetzung gegen das Assad-Regime um Demokratisierung im Zuge des „Arabischen Frühlings“ wich rasch ein religiöser und ethnischer Krieg, bei dem Drittstaaten ihre Vormachtstellung in der Region geltend machen.
Die Zerstörung des Landes kannte keine Grenzen. Jeglicher Lebensgrundlagen beraubt wurden seitdem mehr als 13 Mio. Menschen zur Flucht gezwungen. Laut Angaben der UNHCR (Stand 2019) gibt es 6,6 Mio. Menschen, die sich innerhalb Syriens auf der Flucht befinden. Weitere 6,6 Mio. Syrer verließen das Land.
Quelle: UNHCR
Die deutsche und die europäische Politik war mit den Fluchtbewegungen überfordert, weil nicht darauf vorbereitet. Die EU schaffte es nicht, ein gemeinsames Vorgehen zu koordinieren. Um die Mittelmeerländer zu entlasten, setzte Deutschland die sog. „Drittstaatenregelung“ Ende August 2015 außer Kraft (bis November 2015).
Der extreme Zustrom von Flüchtlingen innerhalb kürzester Zeit verunsicherte die ebenfalls unvorbereitete Gesellschaft in Deutschland. Auf der einen Seite gingen Bilder einer neuen deutschen „Willkommenskultur“ um die Welt, auf der anderen Seite nahmen Hetze und Rassismus zu.
Pegida – Nur wir sind das Volk
Im September 2014 belagerte der „Islamische Staat“ die von Kurden bewohnte nordsyrische Stadt Kobanê. Kurden in Westeuropa demonstrierten daraufhin für eine europäische Unterstützung ihres Kampfes gegen den „IS“. In Hamburg und Celle kam es dabei zu gewalttätigen Zusammenstößen mit Salafisten.
Auch in der Dresdener Innenstadt demonstrierte die kurdische PKK am 10. Oktober 2014. Als Passant verfolgte Lutz Bachmann, der bis dahin schon mit nationalsozialistischer Symbolik kokettiert hatte, das Geschehen. Bereits am nächsten Tag mobilisierte er mit Freunden über Facebook für eine Gegenreaktion. Der auch in Deutschland ausgetragene Konflikt um Kobanê bestärkte deren antimuslimische Einstellungen.
Am Montag, den 20. Oktober 2014 „spazierten“ die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) mit ca. 350 Teilnehmern erstmals durch Dresden.
Dresden, 02.03.2015 | Quelle: picture-alliance / Arno Burgi
In kurzer Zeit erreichte die Bewegung eine gewaltige Dynamik. Nicht nur die Zahl der Anhänger in Dresden stieg rasant und erreichte am 12. Januar 2015 mit ca. 25.000 Menschen ihren Höhepunkt. Ab Dezember 2014 / Januar 2015 gründeten sich im ganzen Bundesgebiet sympatisierende Gruppen von Pegida, die montags auf die Straße gingen.
Montagsmythos
Die Bewegung sah sich in der Tradition der Montagsdemonstrationen in der DDR. Wie Umfragen von 2015/16 ergaben, demonstrierte die Mehrheit der Pegida-Anhänger auch 1989/90. Der Ruf „Wir sind das Volk“ bestärkte das subjektive Gefühl von Kontinuität. Anfangs gab es jedoch nur wenig Wissen über die Zusammensetzung der Demonstrationen, da sich die Menschen den Medien gegenüber verweigerten. Die erste Wahrnehmung färbte daher von den extremen Einstellungen der Organisatoren auf das Spektrum der Teilnehmer ab. Das äußere Erscheinungsbild bestärkte diesen Eindruck.
Spätestens ab Februar 2015 kristallisierte sich ein radikaler ausländerfeindlicher Grundtenor unter den Teilnehmern heraus. Extreme Einstellungen trafen auf eine kritische Masse mit einer großen geistigen Schnittmenge. Konsens wurden völkische und fremdenfeindliche Ansichten, die sich mit dem avantgardistischen Selbstverständnis von 1989/90 paarten. In Bezug auf die Revolution in der DDR ging es nicht um die Integration in den gesellschaftlichen Diskurs sondern um Ab- und Ausgrenzung.
„Wir hier unten - Die da oben“
Dresden, 10.10.2019 / Quelle: Maximilian Helm
Demonstranten und Sympathisanten verweigerten sich nicht nur dem Migrations-Diskurs, sondern sie lehnten jeglichen Prozess einer demokratischen Willensbildung ab. Die 25 Jahre währende Abwertung der politischen Eliten durch die weniger Privilegierten erreichte die gesellschaftliche Mitte. Zum Kristallisationspunkt wurde ein deutschnationaler Patriotismus. Damit stellte die Protestbewegung das demokratische Selbstverständnis in Deutschland zur Disposition. Die anfänglich polemische Ignoranz von Politikern bestärkte dabei nur das Selbstbild von "wir hier unten" und "die da oben".
„Lügenpresse“
Den antisemitisch konnotierten Begriff aus dem 19. Jahrhundert führten im November 2014 Dresdner Hooligans auf den Demonstrationen ein und er wurde schnell zum Kampfbegriff. Er machte die Leitmedien und insbesondere die öffentlich-rechtlichen zum greifbaren Gegner. Die Verschwörungstheorie von den gleichgeschalteten Medien, die im Dienste der Regierenden gegen das „Volk“ agiere, wurde Konsens. Die "Nazi"-Stigmatisierung weiter Teile der Medien bestärkte wiederum die Pegida-Anhänger, Opfer der „Systemmedien“ zu sein.
„Lügenpresse“ überschritt schnell die Grenzen von Pegida und wird seitdem mit beliebiger Polemik von rechts aufgeladen.
Ein großes sympathisierendes Umfeld jenseits des aktiven Teils auf der Straße stärkte die Selbstwahrnehmung. Weiterhin beflügelten radikale Wortmeldungen in den sozialen Netzwerken die Bewegung. Das Agieren in einer von Algorithmen geschaffenen Welt führte für Pegida zur Bestätigung, allgemeine gesellschaftliche Interessen zu vertreten.
Dem stereotypen Bild vom „einfachen Volk“ und den „korrupten Eliten“ ging ein unkultiviert-ordinäres Vokabular einher. Die Denunzierung von Einzelpersonen gehörte zum Grundton. Die Provokationen und der Tabubruch sind Mittel zum Zweck. Sie bringen die gewünschte Aufmerksamkeit, indem sie in die Debatten einfließen.
Angela Merkel, Bundeskanzlerin, 31.08.2015: „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“
Kurz nach der Grenzöffnung im August 2015 versuchte die Kanzlerin, die Gesellschaft für die neuen Herausforderungen zu mobilisieren. Ihr Satz „Wir schaffen das“ wurde sofort zum Sinnspruch für eine fundamentale Kritik an ihrer Flüchtlingspolitik. Große Koalitionen und eine schwache parlamentarische Opposition der letzten Jahre erleichterten Merkel eine von ihr deklarierte „alternativlose“ Politik. Dieser Politikstil verengte die parlamentarische Diskussion. „Wir schaffen das“ brachte das Fass einer schlecht kommunizierten und debattenarmen Politik für große Teile der Bevölkerung zum Überlaufen und wirkte kurzzeitig mobilisierend für Pegida.
Sächsischer Patriotismus
"Canaletto-Blick" - auf die barocke Dresdner Altstadt | Quelle: Wikimedia Commons/ Guido Radig (bearbeitet)
Ein spezieller Faktor, warum gerade in Sachsen und Dresden ein relativ resistentes demokratiekritisches bis –feindliches Milieu entstand, ist der sächsische Patriotismus im Allgemeinen und der Opfermyhtos Dresdens als „unschuldig“ bombardierte Stadt im Weltkrieg im Speziellen. Eine patriotische Einstellung war hier immer dominant.
Nach der Wiedervereinigung kolportierte die Sachsen-CDU ein kollektives historisches Bewusstsein für einen sächsischen Regionalpatriotismus, der an die barocken Glanzzeiten anschließe. Die „sächsische Heimat“ wurde zum Besitzstand erklärt und alle liberalen Meinungen konnten damit als „unsächsisch“ entwertet werden.
Kurt Biedenkopf, sächsischer Ministerpräsident, 28.09.2000: "Die sächsische Bevölkerung hat sich als völlig immun erwiesen gegenüber den rechtsradikalen Versuchungen."
Biedenkopf nahm Bezug auf die Wahlergebnisse zum Landtag 1999, bei der die CDU erneut die absolute Mehrheit gewann. Die CDU glaubte an gesicherte konservative Strukturen und vernachlässigte rechtsextremistische Symptome in Sachsen. Die Wahlerfolge der NPD standen noch bevor.
Gegenprotest
Politiker in Verantwortung und in der Opposition fanden keinen Zugriff auf den neuartigen Widerspruch. In einem sehr viel größeren Maße äußerte sich ein breiter Gegenprotest auf der Straße. Ein unversöhnlicher Riss in der Gesellschaft wurde offenkundig, der auch vor vielen Familien nicht haltmachte.
Der Januar 2015 bildete auch für den Gegenprotest den Höhepunkt. Gegen die Gida-Bewegungen gingen rund 100.000 Menschen auf die Straße.
Der Gegenprotest war in Westdeutschland wesentlich stärker, während die Akzeptanz für Pegida im Osten deutlich höher lag. Leipzig bildete dabei eine Ausnahme.
„Refugees are welcome here!“
Alle Gida-Aufmärsche sind nur mit einem polizeilichen Großaufgebot im Namen der Meinungsfreiheit durchführbar. Es entstanden regionale Bündnisse, die den Protest getragen haben. Vor allem junge Menschen gingen auf die Straße. Das Protestpotential war dabei sehr heterogen, so dass es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, ausgelöst von beiden Seiten, kam.
Pegida in Dresden 2016 | Quelle: interpool.tv
Auch eine breite gesellschaftliche Mitte setzte sich aktiv gegen die Diffarmierungen auf der Straße ein. So suchte z.B. Pegida für ihre Kundgebungen die Kulisse repräsentativ beleuchteter Innenstadtbauten. Unter dem Motto „Licht aus für Rassisten“ blieben sie dabei oft im Dunkeln (Semperoper Dresden, Kölner Dom, Oper Leipzig). Keines der bekannten Wahrzeichen wollte den Hintergrund für die Demonstranten bilden.
Weihnachtsgruß von `89ern: „Ihr protestiert gegen die Schwachen. An die Mächtigen traut ihr euch nicht heran – Feiglinge.“
Mehr als 50 DDR-Bürgerrechtler protestierten Ende 2014 gegen die Vereinnahmung der Geschichts-Ikonen. In frecher Sprache suchten sie kein Gespräch mit den Pegida-Demonstranten, sondern riefen zum Widerstand auf.
Hinweis: PDF Download
Sehr symbolträchtig demonstrierte Legida in Leipzig auf dem „historischen“ Innenstadtring, wo sich im Oktober 1989 das Schicksal der SED entschied. Alle Bemühungen, diese Vereinnahmung zu verhindern, schlugen fehl. Nach einer kurzen Hochzeit wurde Legida durch den kontinuierlichen Protest immer bedeutungsloser und gab im Januar 2017 auf.
Radikalisierung der Gida-Bewegung
Allein in Sachsen kam es 2015 zu 693 Pegida-Demonstrationen (bes. Dresden, Leipzig, Plauen). Mit fortschreitender Existenz und Ausbreitung erfolgte eine rechtsextreme Radikalisierung. Vor allem außerhalb Dresdens wurden die Demonstrationszüge nicht selten von NPD-Kadern oder HogeSa-Hooligans angeführt.
Köln: „Die Polizei wird unmittelbaren Zwang gegen Sie einsetzen. Ende der Durchsage.“
Pegida-NRW nutzte die Empörung über die Angriffe in der sog. „Kölner Silvesternacht“, um eine gewalttätige Stimmung gegenüber allen Migranten und Geflüchteten zu schüren. In der zurückliegenden Silvesternacht kam es zu unfassbaren Massenübergriffen nordafrikanischer und irakischer Männer auf feiernde Frauen.
Die Demonstration gab sich daraufhin das Motto: „Pegida schützt“.
Köln, 09.01.2016 | Quelle: interpool.tv
Auch in München bestimmten rechtsextremistische Standpunkte die Bewegung. Hier gelang es, einen offenen Antisemitismus in die Öffentlichkeit zu tragen, indem Pegida immer wieder Demonstrationen vor dem Münchner Jüdischen Zentrum anmeldete.
Bedeutungsverlust von Pegida
Nach inneren Querelen über die Führungs- und Deutungshoheit begann 2015 ein einsetzender Bedeutungsverlust, auch wenn einzelne politische Ereignisse der Bewegung zu einer kurzzeitigen Revitalisierung verhalfen (sog. „Flüchtlingskrise“ 2015, Kölner Silvesternacht 2015/16). Der Anspruch eines Vorreiters von deutschlandweiten Straßenprotesten scheiterte.
Alternative für Deutschland - AfD
Seit Juli 2015 ging ein weiterer Bedeutungsverlust mit dem Sturz des wirtschaftsliberalen Flügels innerhalb der Partei einher. Das völkische Denken hatte nun einen deutschlandweiten politischen Arm und die AfD löste Pegida als Sprachrohr des Rechtspopulismus ab. Zynismus und Schmähungen der Straße fanden durch die AfD Einzug in Talkshows und die Parlamente. Für den Schein einer bürgerlichen Partei distanzierte sich die AfD kurzzeitig von Pegida und verhängte ein Kooperationsverbot.
Wahlverhalten von Pegida-Anhängern zur sächsischen Landtagswahl im August 2014 und zur „Sonntagsfrage“ (Selbstaussage 2015 in %):
AfD | CDU | Linke | SPD | FDP | NPD | Grüne | |
---|---|---|---|---|---|---|---|
Pegida-Teilnehmer | 59,8 | 16,6 | 6,1 | 4,9 | 6,1 | 4,9 | 1,2 |
Tatsächliches Ergebnis | 9,7 | 39,4 | 18,9 | 12,4 | 3,8 | 4,9 | 5,7 |
Sonntagsfrage | 89 | - | 3 | 2 | - | 5 |
z.n. Piotr Kocyba: Wieso Pegida keine Bewegung harmloser besorgter Bürger ist. In: Rehber, Karl-Siegfried u.a. (Hrsg.) :Pegida – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und „Wende“-Enttäuschungen. Analysen im Überblick. Bielefeld, 2016
Das Publikum wurde an den Montagen kaum noch überrascht. Initiator Bachmann versuchte mit einer lockeren Art, die Teilnehmer für sich zu gewinnen. Die Redebeiträge sind geprägt von Schmähungen und Pauschalisierungen gegen Politiker, Ausländer, die Presse und den Gegenprotest. Immer wieder wurde der Verdacht der „Volksverhetzung“ geprüft. Auf diesem Niveau hält eine kleiner gewordene Gemeinschaft zusammen.
Dresden, 10.10.2019 | Quelle: Maximilian Helm
Fazit
Die politischen Nebenwirkungen durch Pegida sind gravierend und haben Deutschland nachhaltig verändert. Pegida und die auf ihr folgende AfD haben mit einer provozierenden Vulgärsprache den moralischen Kompass verschoben. Völkisches Denken wurde salonfähig. An die Stelle einer vielfach vermissten sozialen Solidarität, wie sie schon bei den Hartz-IV-Demos zum Ausdruck kam, trat eine ethnisch und kulturell definierte „Volksgemeinschaft“. Rechtspopulisten übernahmen die Deutungshoheit über wertkonservative Begriffe wie „Nation“, „Identität“, „Kultur“ oder „Heimat“, indem sie diese politisch aufgeladen haben.
Die Verrohung der Diskussionskultur bewirkte einen Aufruf zur Tat und führte zu gefährlichen Übergriffen auf Flüchtlinge, an denen sich nicht nur das rechtsradikale Milieu beteiligte (Heidenau, Freital, Bautzen, Clausnitz, Chemnitz …). Im Jahr 2015 gab es laut Bundeskriminalamt knapp 1.400 rechtsextreme Gewalttaten, im Jahr darauf noch einmal 200 mehr. Viele Angriffe richteten sich gegen die Geflüchteten.
Pegida inspirierte weiterhin zur Gründung vieler regionaler Gruppen, die nach außen den Anschein einer Bürgerinitiative vermittelten, aber strukturell von Rechtsextremen organisiert worden.
Christian Lüth, Pressesprecher der AfD-Bundestagsfraktion, 23.02.2020: „Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD. […]Wir können die [Migranten] nachher immer noch alle erschießen. Das ist überhaupt kein Thema. Oder vergasen, oder wie du willst. Mir egal.“
Quelle: „ProSieben Spezial: Rechts. Deutsch. Radikal.“, 2020
Deutschland erlebt 2020 mit den Straßenprotesten gegen die staatliche Corona-Politik einen neuen "Pegida-Effekt", der sich noch weit heterogener darstellt.
Querdenken – „Die zweite friedliche Revolution.“
Seit April 2020 fanden in vielen Städten Kundgebungen, „Spaziergänge“ und Demonstrationen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Beherrschung der Corvid-19-Pandemie statt. Mit der „Querdenken“-Bewegung erreichte der Protest im Sommer 2020 eine überregionale Vernetzung.
Die Leipziger Gruppe mobilisierte sehr erfolgreich mit dem historischen Vorbild der Montagsdemos. Für ihre Demonstration am 7. November 2020 wurde die größte Leipziger Montagsdemo vom 6. November 1989 (ca. 300.000 Teilnehmer) als historisches Vorbild herangezogen. Das Motto hieß: „Geschichte gemeinsam wiederholen“. Die "Corona-Diktatur" sollte gestürtzt werden.
Der Erfolg der 89er-Revolutionsbewegung wurde wieder ikonisiert, indem er diesmal mit den Einschränkungen der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung aufgeladen und verallgemeinert wurde.
Nils Wehner, „Querdenken Leipzig“, 11.10.2020: „Niemand hat damit gerechnet, dass man dieses [SED-] Regime tatsächlich stürzen kann. Die Bürger haben es damals gerichtet und genauso werden wir es jetzt auch tun. […] Wenn wir genau dort die gleichen Bilder, 31 Jahre später, wieder erzeugen, wieder mit Kerzen in der Hand die ganze Stadt fluten. Wir werden diese Stadt fluten.“
Ca. 45.000 Menschen ohne Masken und Mindestabständen versammelten sich mitten in einer Zeit, als das Corona-Virus in seiner Ausbreitung nicht mehr zu kontrollieren war, an den historischen Orten von 1989. Die "Querdenken"-Bewegung agierte mit dem Pathos der Revolutionserinnerung.
Das Protestpotential war sehr heterogen und reichte von den verschiedensten Verschwörungstheoretikern über die gesellschaftliche Mitte bis in die bürgerliche Linke. Auch Rechtsextreme versuchten, sich die Corona-Krise zu Nutze zu machen und damit wieder Anschluss an Mehrheiten zu finden. Durch die Verbreitung von Verschwörungsmythen und die Diffamierung der liberalen Demokratie fanden sie auch bei Personengruppen Gehör, die für ihre Ziele bis dahin weniger ansprechbar waren. Die Masse distanzierte sich erneut nicht. So kam es zu den von den "Querdenkern" erhofften Bildern der "Flutung": nach Auflösung der Kundgebung überwanden ca. 500 Rechtsextreme und Hooligans die Polizeiabsperrungen und ebneten damit den Corona-Leugnern die Demonstration auf dem „historischen“ Ring. Nachdem sich der Rechtsstaat zurückzog und die Masse gewähren ließ, feierten, Polonaise durch die Leipziger Innenstadt tanzend, die Demonstranten ihren Erfolg.